Demokratische Bundesrepublik Äthiopien
Äthiopien ist ungefähr dreimal so groß wie Deutschland und das bevölkerungsreichste Land auf dem afrikanischen Kontinent, ein Land, das nie wirklich kolonisiert wurde. Das Land gilt als Geburtsstätte von Lucy, berühmteste Vertreterin des Vormenschen Australopithecus afarensis. Sie soll 3,2 Millionen Jahre alt sein (SZ 6./ 7. 11. 2021).
Axum – Vorgänger Äthiopiens
In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung (u.Z.) existierte im östlichen Afrika ein Königreich namens Axum. Er umfasste das heutige Tigray, das heutige Eritrea, Teile des Sudan und des Jemen. Sein Gebiet unterschied sich also deutlich vom Gebiet des heutigen Äthiopiens. Seine Hauptstadt Axum, im heutigen Tigray gelegen, galt als heilige Stadt, in der viele Kaiser der äthiopischen Herrscherdynastien gekrönt wurden (1, S. 1; 1a, S. 45).
Im 4. Jahrhundert u.Z. wurde das Christentum vor allem unter dem herrschenden axumitischen Adel verbreitet. Um die Mitte desselben Jahrhunderts ließ sich Ezanas, König von Axum taufen und erklärte das Christentum zur Staatsreligion in diesem Land. Münzfunde aus dem 4. Jahrhundert u.Z. waren nunmehr mit dem christlichen Kreuz geprägt (1a, S. 50 f.). Die offizielle Bezeichnung dieser Religion lautet „Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche. „Tewahedo“ lautet übersetzt „Einheit“ und sollte zum Ausdruck bringen, dass Jesus Christus das Göttliche und das Menschliche in sich vereint (2, S.1)
Erst im 6. und 7. Jahrhundert u. Z. verbreitete sich das Christentum über das gesamte Territorium Axums. Es wurden Klöster, Steindenkmäler, Paläste, Monolithen, etc. gebaut, Zeugnisse einer kulturellen Eigenständigkeit, Vielfältigkeit und handwerklicher Kunstfertigkeit, die heute noch von großer Anziehungskraft für die archäologische Forschung (und für Touristen) sind (1a, S. 50 ff.).
Ab dem 9. Jahrhundert u. Z. wurde der Islam in Axum verbreitet und bedrängte die orthodoxe Kirche. Allmählich rundum von muslimisch geprägten Ländern umgeben und von christlich geprägten Ländern isoliert, konnte sich die äthiopisch-orthodoxe Kirche dennoch behaupten: sie entwickelte eine einzigartige christliche Tradition mit Gebeten, Gesängen und einer eigenen Liturgiesprache namens Ge’ez (2, S 1; 3, S. 92 f). Das geschriebene Ge’ez war anfangs eine reine Konsonantenschrift. Später wurde die Schrift so verändert, dass Zeichen sowohl Konsonanten als auch Vokale beinhalteten. Diese äthiopische Schrift wird heute in Äthiopien noch insbesondere für das Amharische und für Tigrinia, zwei der wichtigsten Sprachen, verwendet (4, S. 1f.; 1a, S. 49).
Im Laufe der folgenden Jahrhunderte nahm die Isolierung Axums zu, seine wirtschaftliche Bedeutung nahm ab. Erst ab dem 13. Jahrhundert entstand ein neuer mächtiger Staat(1a, S. 53; 3, S. 184).
Bei einem brutalen Eroberungsversuch im Jahr 1896 siegte das kaiserliche Heer Abessiniens über die italienische Kolonialarmee und es blieb unabhängig. Von 1935 bis 1941 geschah erneut ein außerordentlich brutaler Eroberungsversuch von Seiten des faschistischen Italiens unter Mussolini. Das abessinische Kaiserreich wurde Teil des italienischen Kolonialgebietes Ostafrika. Mussolini sprach von einer „Mission der Zivilisation“. Abessinische Partisanen leisteten mutig und beharrlich Widerstand und befreiten zusammen mit britischen Truppen und zehntausenden Soldaten aus den britischen Kolonien im Jahr 1941 das Land innerhalb von fünf Monaten. Der nach dem Überfall der Italiener ins Exil geflüchtete Kaiser Haile Selassie kehrte im gleichen Jahr nach Abessinien zurück (26, S. 55 – 63; 5, S. 1; 6, S.4).
Abessinien / Äthiopien hat eine Geschichte von mehr als 3000 Jahren. In dieser Zeit vollzog sich eine fast kontinuierliche Kultur- und Zivilisationsentwicklung. Das Land weist heute neun UNESCO-Welterbe-Kulturstätten auf, durch die es zu einem begehrten Zielort von Touristen*innen geworden ist. Äthiopien hat seine eigenen Sprachen, seine eigene Schrift und einen eigenen Kalender. Dieser ist eine Variante des koptischen Kalenders: Er hat 12 Monate mit jeweils 30 Tagen und einen 13. Monat „Pagume“ mit 5 Tagen (SZ, 6. / 7. 11. 2021; 7, S. 1f.).
Äthiopien in der Gegenwart
Zeittafel der Staatsoberhäupter seit 1930 (8, 9)
1930 – 1936 Haile Selassie, Kaiser von Abessinien
1936 – 1941 Exil in England
1941 – 1974 Haile Selassie, Kaiser, zurück in Abessinien
1974 – 1991 Mengistu Haile Mariam, Präsident von Äthiopien;
Marxistischer Diktator, 1991 gestürzt
1991 – 1995 Meles Zenawi, Interimspräsident
1995 – 2012 Meles Zenawi, Ministerpräsident, gestorben 2012
2012 – 2018 Hailemariam Desalegn, Ministerpräsident, zurückgetreten nach Protesten
2018 Abiy Ahmed Ali, Ministerpräsident, gewählt (8, S. 3).
Äthiopien verzeichnet knapp 100 Mio. Einwohner (2021) und mehr als 80 Ethnien, davon sind die wichtigsten Oromo (35 %) und Amhara (27 %). Die Minorität der Tigray haben einen Bevölkerungsanteil von 6 %. Seit 1994 heißt Abessinien Äthiopien, ist Äthiopien eine föderale Republik. Die neue Verfassung ist im Jahre 1995 in Kraft getreten. Die größten ethnischen Gruppen sind in 9 Bundesstaaten bzw. Regionen und zwei Städten (Addis Abeba, Dire Dawa) mit weitreichender Autonomie organisiert. Das Parlament – Rat der Volksabgeordneten – hat maximal 550 Abgeordnete. Sie werden alle 5 Jahre neu gewählt. Das Staatsoberhaupt wird vom Parlament für 6 Jahre gewählt. (10, S. 48 ; SZ 20. 11. 2020).
Äthiopiens Wirtschaft
(Die für diesen Bereich zugänglichen Angaben differieren zeitlich z.T. erheblich und sind nicht auf dem neuesten Stand).
1974, mit Beginn der Regierungszeit Mengistu Haile Mariams wurde in Äthiopien eine sozialistische, zentral verwaltete Wirtschaft aufgebaut. Die Wirtschaft wurde zum großen Teil in staatliche Hand überführt und staatlich kontrolliert. Seit 1991, dem Beginn der Regierung von Meles Zenawi, wurde wiederum ein dezentrales marktwirtschaftliches System entwickelt (11, S. 1).
Wichtiger Wirtschaftzweig Äthiopiens ist die Landwirtschaft. Hier ist es vor allem der Kaffee mit den drei Anbauregionen Yirgacheffe, Harrar und Sidamo, der mit 65-75 % an den Deviseneinnahmen beteiligt ist. Knapp 4/5 der Äthiopier arbeiten in der Landwirtschaft (2017).Der Agrarsektor leidet unter periodischen Dürren, Erosion infolge Überweidung, Entwaldung, hoher Bevölkerungsdichte, hoher Besteuerung agrarischer Produkte und mangelhafter Infrastruktur, die den Zugang zu Märkten erschwert. Dennoch ist die Landwirtschaft – theoretisch – eine aussichtsreiche Ressource für die Entwicklung des Landes: das Land hat fruchtbaren Boden und es können verschiedene Getreidesorten angebaut werden. (11, S.1- 3).
In Äthiopien gibt es überdies Nahrungsmittel-, Getränke-, Textil- und Lederindustrie –vor allem auf die Städte konzentriert. Hinzu kommen Chemische Industrie, Metallverarbeitende- und Zementindustrie.
Der Anteil der Landwirtschaft lag im Jahre 2017 bei 35,8 %, der der Industrie bei 22,2 %. Den größten Anteil am Bruttoinlandsprodukt hält – ebenfalls im Jahr 2017 – der Dienstleistungssektor mit 42,2 % (11, S. 2).
Das Potential für Tourismus ist groß in Anbetracht der neun UNESCO-Weltkulturerbestätten. Mit 864 000 Touristen/innen stand Äthiopien im Jahr 2016 auf Platz 21 der meistbesuchten Länder Afrikas. Die Einnahmen aus diesem Sektor beliefen sich im gleichen Jahr auf ca. 280 Mio. US-Dollar (11, S. 6).
Die Wirtschaft Äthiopiens wies in den meisten Jahren seit 2005 Wachstumsraten von mehr als 10 % pro Jahr auf (10, S. 49; 11, S. 6). Selbst im Corona-Jahr 2020 betrug es noch 6 % (12, S. 1). Angaben der UN für das Jahr 2013 zufolge zählte der Staat mit einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 542 US $ dennoch zu den „last developed countries“. Dies ist eine nach UN-Kriterien definierte Gruppe der besonders armen Entwicklungsländer (13, S. 18; 11, S. 1 und 3). Etwa 1/3 der Bevölkerung lebt in absoluter Armut mit weniger als 1,25 US $ pro Tag und gilt als unterernährt. Immer wieder suchen Hungerkrisen das Land heim, so dass es auf externe Nahrungsmittelhilfen angewiesen ist (10, S. 49).
Die Regierung Abiy plant einen großangelegten Ausbau der äthiopischen Textilindustrie mit dem Ziel, bis zum Jahr 2025 den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen (nach Weltbank Kategorien) zu erreichen. In 16 neu anzulegenden Industrieparks sollen internationale Textilunternehmen angesiedelt und der Bevölkerung tausende neue Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden. Die Regierung erwartet durch den Export von Textilien und Bekleidung jährliche Einnahmen von ca. 30 Mrd. US $ (10, S. 49). Durch den Krieg und die vielen ethnischen Spannungen im Land sind diese Pläne allerdings ins Stocken geraten (15, S. 5).
Anders der Bau des „Großen Renaissance-Staudamms“, den die äthiopische Regierung seit 2011 betreibt und der inzwischen weitgehend fertiggestellt ist. Es ist das größte Wasserkraftprojekt auf dem afrikanischen Kontinent. Der Staudamm soll die Energieversorgung in Äthiopien sichern und Millionen Haushalte erstmals mit Strom ausstatten.
Äthiopien vereint den größten Anteil der Nil – Zuflüsse auf seinem Territorium. Die beiden anderen stromabwärts liegenden Anrainerstaaten – Ägypten und Sudan – sind ebenfalls auf das Nilwasser angewiesen. Die Wasserversorgung in Ägypten ist zu mehr als 90 % vom Nilwasser abhängig. Beide Regierungen befürchteten eine Reduzierung der ihnen zur Verfügung stehenden Wassers. Deshalb gab es von Anfang an Streit über dessen Verteilung: Ägypten berief sich auf seine in Verträgen aus den Jahren 1919 und 1959 verbrieften Wasserrechte, während Äthiopien auf einer Neuordnung der Verteilung bestand, weil seine Ansprüche in diesen Abkommen nicht berücksichtigt worden waren.
In einem Abkommen vom März 2015 vereinbarten Hailemariam Desalegn und die beiden anderen Staatschefs Abdel Fatah al-Sisi (Ägypten) und Omar Hasan Ahmad al-Bashir (Sudan), beim Bau des Staudamms zu kooperieren. Um die Auswirkungen des Staudamms auf die Nachbarstaaten Äthiopiens zu untersuchen, sollten außerdem internationale Berater hinzugezogen werden. Der äthiopische Staat verpflichtete sich, seine Planungen gegebenenfalls zu ändern.
Mittlerweile hat die dritte Füllungsphase des Staudamms begonnen. Gespräche der drei Anrainerregierungen über die Wasserverteilung waren im Jahr 2021 ergebnislos beendet worden. Die Spannungen zwischen ihnen nehmen zu (25, S. 47; FAZ 8. 8. 2022).
Werdegang Abiy Ahmed Alis oder: Wer ist AAA?
Abiy Ahmed Ali wurde im Jahr 2018 vom Parlament Äthiopiens zum Ministerpräsidenten gewählt. Er ist der erste äthiopische Ministerpräsident, welcher der Ethnie der Oromo angehört (10, S. 49).
Abiy wurde 1976 geboren. Sein Vater – Oromo – ist Muslim, seine Mutter – Amhara- ist äthiopisch orthodoxe Christin. Über seine Religionszugehörigkeit finden sich unterschiedliche Angaben, mehrheitlich werden er und seine Frau der christlichen Pfingstkirche zugeordnet (14, S. 2; 15, S. 5).
Im Alter von 15 Jahren schloss Abiy sich bereits der Demokratischen Organisation des Oromovolkes (OPDO), einer Interessensvertretung der Oromo an. Im Jahr 1993 trat er in die äthiopische Armee ein. Dort erhielt er eine technische Ausbildung und wurde in Fernmeldeeinheiten eingesetzt. 1995 nahm er an einer Friedensmission der UN in Ruanda teil und diente im äthiopisch-eritreischen Grenzkrieg der Jahre 1998 – 2000. Später wurde er in seiner Herkunftsregion als Vermittler zwischen Christen und Muslimen bekannt. Während seiner Zeit im Militär absolvierte Abiy ein Studium der Computer- und Kommunikationstechnik und ein Aufbaustudium in Kryptographie, der Wissenschaft von der Verschlüsselung von Nachrichten.
Im Jahre 2011 beendete Abiy ein Studium in „Transformational Leadership“ an der Londoner University of Greenwich. Anschließend erwarb er 2013 einen Master of Business Administration am Leadstar College of Management and Leadership. Dort erwarb er 2017 auch einen Doktortitel. Seine Doktorarbeit hatte die Lösung interreligiöser Konflikte in seiner Herkunftsregion zum Thema.
Zwischen den Jahren 2007 und 2010 war Abiy stellvertretender Direktor der Information Network Security Agency (INSA), die er mit aufgebaut hatte. Diese Behörde kontrolliert die gesamte Telekommunikation Äthiopiens. Journalisten bewerteten sie als Instrument der Regierung, mit der sie 0ppositionelle unterdrücken konnte. 2010 gewann Abiy als Vertreter der 0PD0, der Interessenorganisation der Oromo, ein Abgeordnetenmandat im Unterhaus. Unter Ministerpräsident Hailemariam Desalegn war Abiy ab 2015 Wissenschaftsminister. Er wurde etwas später Generalsekretär der 0PD0, dann auch Parteivorsitzender. Im Jahr 2018 wurde er zum Parteivorsitzenden der Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front – Revolutionäre Demokratische Front der äthiopischen Völker – EPRDF gewählt. Höhepunkt seines Werdegangs war schließlich am 2. April 2018 die Wahl zum Ministerpräsidenten Äthiopiens (14, S. 1-3).
Der Politiker Abiy Ahmed Ali
Bis zum Beginn der Regierung Abiy Ahmeds waren die Tigray die politisch dominante Ethnie im Vielvölkerstaat Äthiopien gewesen, obwohl sie eine Minderheit mit einem Anteil von nur 6 % an der Gesamtbevölkerung sind. Die Volksbefreiungsarmee von Tigray – TPLF übernahm seit dem Sturz der marxistisch-leninistischen Junta von Mengistu Haile Mariam im Jahre 1991 die Macht in allen wichtigen Bereichen. Ministerpräsident Meles Zenawi, ein Tigrer, regierte das Land in diesem Sinne und mit harter Hand: 90 Prozent der Posten der Armee wurden mit TPLF- Anhängern besetzt. Sie übernahmen auch die Kontrolle der Geheimdienste und installierten eine allumfassende Überwachung der Bevölkerung. Korruption war allgegenwärtig. Anhänger der TPLF kontrollierten den größten Teil der Wirtschaft. Immerhin erreichte das TPLF-Regime ein stabiles Wirtschaftswachstum. Die TPLF – Regierung herrschte als repressive abgeschottete Minderheit (15, S. 4; FR 5. 11. 2020; SZ 4. 11. 2021).
Auch die Regierungszeit Hailemariam Desalegns,Nachfolger Zenawis, waren von Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. Die Masse der Bevölkerung auf dem Land genoss weiterhin keine Freiheiten. Die landesweiten Massenproteste der 0romo gegen die autoritäre Regierung weiteten sich aus und eskalierten: Forderungen nach politischer Teilhabe und regionaler Autonomie wurden immer lauter. Desalegn verhängte den Ausnahmezustand. Es gab hunderte Todesopfer, tausende wurden verhaftet. Und es wurde gefoltert. Schließlich wurde Desalegn zum Rücktritt gezwungen. Er äußerte die Hoffnung, sein Amtsverzicht werde einen politischen Reformprozess ermöglichen (15, S. 5; 10, S. 48; 14, S. 3).
Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt am 2. 4. 2018 begann Abiy mit der Säuberung von Armee und Geheimdiensten. Mit seiner Wahl im Jahr 2018 ging die 27-jährige Herrschaft der TPLF zu Ende. Führungspersonen in Wirtschaft und Armee wurden nunmehr wegen Korruption angeklagt (15, S.4). Bis zum Sommer 2020 wurden alle TPLF- Vertreter, die der Regierung angehörten, aus ihren Ämtern entfernt. Sie wurden –ebenso wie viele andere Oppositionspolitiker- inhaftiert oder verschleppt (FR 12. 3. 2021). Die TPLF war nun Oppositionspartei geworden.
Abiy hob den Ausnahmezustand auf, entließ zehntausende Regimegegner aus dem Gefängnis, begann mit der Liberalisierung der Wirtschaft, beförderte Frauen auf wichtige Posten im Land und wandelte das Foltergefängnis in der Hauptstadt in ein Museum um (taz 12. 10. 2019; FR 10. 10. 2020). Nach Ablauf seines ersten Amtsjahres waren alle inhaftierten Journalisten*innen frei, zuvor verbotene Medien wieder zugelassen und auch zivilgesellschaftliche Organisationen konnten ihre Arbeit fortsetzen (16, S. 17).
Der Amtsantritt Abiys war mit großen Erwartungen von Seiten der Bevölkerung verbunden. Im Vordergrund stand die Frage, wie er mit der ethnischen Vielfalt im Land umgehen würde. Bisher gab es ein föderatives System, d.h. Bundesstaaten, die nach ethnischen Kriterien eingeteilt waren. Wesentliches Ziel Abiys war es, diesen dezentral organisierten Vielvölkerstaat in einen Zentralstaat umzuwandeln: die Bürger seines Landes sollten sich in erster Linie als Äthiopier und nicht als Angehörige einer der 80 Ethnien verstehen. Er wollte mit diesem Konzept erreichen, dass der Hass und die Rivalität der Volksgruppen untereinander beendet würden. Die Autonomie der Regionen schränkte er deshalb ein. Viele Äthiopier waren nach Jahren der Unterdrückung durch die vorherigen autoritären Regierungen jedoch auf ihre Autonomie innerhalb des föderal organisierten Staates besonders bedacht. Abiys Konzept war infolgedessen – entgegen seiner Zielsetzung – konfliktträchtig. (14, S. 4;15, S. 4 f.; SZ, 20. 11.2020;17, S. 88 ff.).
Kurz nach seinem Amtsantritt schloß Abiy im Juli 2018 ein Friedensabkommen mit Isayas Afewerki, dem Regierungschef von Eritrea. Eritrea war früher äthiopische Provinz gewesen und wurde im Jahr 1993 unabhängig. Die Regierungen beider Länder nahmen nach 20 Jahren erbitterter Feindschaft erstmals wieder diplomatische Beziehungen auf (15, S.1).Unklar blieb, welchen Inhalt das Friedensabkommen im Einzelnen hatte: es wurde von Abij ohne Beteiligung des Außenministeriums und ohne Einbeziehung des Parlaments vereinbart (taz, 30. 11. 2020).
Für „seine Bemühungen um Frieden und internationale Zusammenarbeit und insbesondere für seine entschlossene Initiative zur Lösung des Grenzkonflikts mit dem benachbarten Eritrea“ erhielt Abiy im Jahr 2019 den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede bezeichnete er Krieg als „Inbegriff der Hölle“ (FR 10. 10. 2020). Im gleichen Jahr und aus gleichem Anlass wurde ihm der Hessische Friedenspreis verliehen (14, S. 4, 6; SZ, 20.11.2020).
Für August 2020 waren in Äthiopien Wahlen geplant, die Abiy zweimal verschob: zunächst mit Hinweis auf die Corona-Pandemie, dann wegen „logistischer Probleme“. Die TPLF akzeptierte diese Verschiebungen nicht und führte im September 2020 eigenständig Kommunalwahlen im Bereich Tigray durch. (15, S.4; FR, 5. 11. 2020). Sie soll mit 98,2 % der Stimmen gesiegt haben.
Die TPLF und die tigrische Bevölkerung wehrten sich außerdem gegen ihre Entmachtung als Folge der zentralisierten Regierungsführung Abiys. Am 4. 11. 2020 griffen die Soldaten der TPLF in Tigray gelegene Stützpunkte der äthiopischen Streitkräfte an. Sie eroberten einen Teil der militärischen Ausrüstung der äthiopischen Armee in deren Stützpunkt in Mek‘ele, derlokalenHauptstadt Tigrays. Umgehend, am nächsten Tag, erfolgte daraufhin der Einmarsch der äthiopischen Streitkräfte in die Provinz Tigray, Besetzung von Mek‘ele und Einsetzung einer Übergangsregierung durch das Parlament Äthiopiens. Die TPLF-Soldaten wurden vertrieben (FR 10. 10. 2020 ;15, S. 4;14, S.4 f.)
Der Einmarsch war begleitet von massiver Gewalt, nicht nur gegen die TPLF-Soldaten, sondern auch gegen die Bevölkerung von Tigray (SZ 4. 2. 2021). Entgegen Abiys Zusicherung, es habe keine zivilen Opfer gegeben, berichtete ein UN-Beamter von schwersten Menschenrechtsverletzungen an Dutzenden von Personen: von Verschleppung, Vergewaltigungen, willkürlichen Tötungen, massenhaften Deportationen und Massakern. Maschinengewehre waren im Einsatz, Minen waren gelegt worden. „Ungeheure Gewalt“ war es, die sich gegen die Bevölkerung von Tigray richtete – so die Einschätzung der Autorinnen Gaveriaux und Hochet-Bodin in ihrem Bericht „Wer kämpft in Tigray?“ (15, S. 4).
Von Seiten Eritreas wurde der Angriff auf die Bevölkerung Tigrays militärisch unterstützt. Afewerki war inzwischen ein zuverlässiger Verbündeter Abiys gegen Tigray geworden. Afewerki rächte sich damit offensichtlich an den Tigrern, die im Jahr 2000 an der Niederlage seines Landes im Kampf gegen Äthiopien beteiligt waren (18, S.11; 15, S. 1, 4). Auch die eritreische Armee beging Massaker, Plünderungen, Zerstörungen, Erschießungen in der Region Tigray (SZ 4. 2. 2021; SZ 4.11.2021).
“Was ist nur aus Abiy geworden“? – so fragen Autoren in Le monde diplomatique (15, S. 5)
Im Juni 2021 fanden Parlamentswahlen in Äthiopien statt. Die Region Tigray wurde aus organisatorischen Gründen nicht einbezogen. Abiy hatte mittlerweile die EPRDF, der er selber angehörte, aufgelöst und eine neue Regierungspartei mit Namen „Wohlstandspartei“ (Prosperity Party, PP) gegründet. Diese Partei kandidierte nun und erhielt die meisten Mandate im Parlament (14, S. 5). Mit der Auflösung der bisherigen und der Gründung einer neuen Partei sicherte sich Abiy einen relevanten Machtzuwachs: „Die PP ist als Struktur gedacht, in der wenige Leute die Macht vom Zentrum heraus kontrollieren können“. … Alle Entscheidungen der Partei kommen aus Abys Büro“ – so lautet die Einschätzung von Tsedale Lemma, Journalistin in Äthiopien in einem Interview mit Benjamin Breitegger
(taz 30. 11. 2020).
Im Oktober 2021 wurde Abiy für eine zweite Amtszeit vereidigt.
Der bewaffnete Konflikt in der Region Tigray dauerte im Jahr 2021 fort und dehnte sich im Juli auf die Regionen Amhara, Oromia, Atar und Somali etc., aus (19, S. 2). In Amhara, so berichteten Zeitzeugen, hätten Tigrer „5 Tage lang gewütet“, Priester ebenso wie Männer erschossen. Manchen hätten sie ihre Hände auf den Rücken gebunden, ehe sie eine Kugel in den Kopf bekamen. Im Verlaufe ihres Rückzuges hätten sie das Vieh getötet und mit ihren Gewehren in die Dächer geschossen, so dass sie keinen Schutz mehr vor Regen boten (SZ 6. / 7. 11. 2021). Nachdem die TPLF im Juni 2021 die tigrische Stadt Mek‘ele zurückerobert hatte, rückten ihre Truppen im November 2021 ins Zentrum Äthiopiens vor und kamen der Hauptstadt Addis Abeba bis auf einige hundert km nahe. Abiy hatte inzwischen den Ausnahmezustand ausgerufen. Das erlaubte ihm, Menschenrechte einzuschränken, Kritiker zu inhaftieren, Medien zu verbieten und alle Männer über 18 Jahren einzuziehen (SZ 4.11. 2021;14, S. 5). Die äthiopischen Regierungstruppen drängten nunmehr die TPLF-Soldaten mit Hilfe von Kampfdrohnen aus der Türkei, den Emiraten, Israel und aus dem Iran wieder Richtung Norden in deren eigenes Gebiet –Tigray – zurück (SZ, 10. 1. 2022). Die Kämpfe sollen zu dieser Zeit sehr heftig gewesen sein, es soll erneut tausende Tote auf beiden Seiten, sowie ethnische Massaker und Fluchtbewegungen gegeben haben (SZ, 20. 12. 2021).
Die Zahl der im Verlaufe des Krieges Vertriebenen wurde von den UN auf mehrere Millionen Menschen geschätzt (SZ, 20. 12. 2021; 14, S. 5).
Schätzungen der UN zufolge, waren um die Jahreswende 2020/2021 im Verlaufe des bewaffneten Konflikts etwa 4 Millionen Menschen – das sind zwei Drittel der Bevölkerung Tigrays – dringend auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen (taz, 16. 3. 2021;14, S. 5). Im Juni 2021 meldeten die UN, dass etwa 2 350 000 Menschen in Tigray unter einer Hungersnot leiden, davon etwa 350 000 wegen Unterernährung in Lebensgefahr schweben würden. Die Regierung Äthiopiens dementierte diese Nachricht und warnte davor, den tigrischen Kämpfern zu Hilfe zu kommen.
Wenig später ließ sie LKW-Konvois mit Hilfsgütern an der Weiterfahrt hindern und diese teilweise plündern. Erst nachdem das world food program der UN (WFP) bekannt gab, dass die Vorräte in Tigray zu Ende gehen würden, ließ die äthiopische Regierung 100 von 170 LKW in Richtung Tigray weiterfahren (20, S.3). Amnesty international berichtete unter Berufung auf die UN, dass die äthiopische Regierung im Juli 2021 nur 10 % der für Tigray bestimmten humanitären Hilfe zugelassen und dadurch eine Hungersnot ausgelöst habe. 400 000 Menschen lebten laut Einschätzung der UN damals unter Hungersnot ähnlichen Bedingungen und mehr als 5 Millionen Menschen benötigten Lebensmittelhilfe.
Die medizinische Versorgung und der Zugang zu Trinkwasser waren eingeschränkt, die Kommunikations- und Transportverbindungen unterbrochen worden (SZ 21. 6. 2021; FR, 12. 3. 2021; taz, 16. 3. 2021). Ab Juli 2021 durften auch keine Medikamente mehr in die Region Tigray gebracht werden (19 a, S. 3 f.). Das Gesundheitswesen in Tigray wurde im Verlauf der Kämpfe weitgehend zerstört; es gab keine Tests wegen Covid-19-Verdachts, keine Möglichkeiten, sicheren Abstand zu halten, Masken zu kaufen, sich häufig die Hände zu waschen – so berichteten Ärzte von médécins sans frontières (taz, 16. 3. 2021).
Die Impfrate gegen das Coronavirus blieb niedrig: In ganz Äthiopien wurden gerade mal knapp 5 Millionen Impfstoffdosen verimpft. Bis Anfang Dezember 2021 waren nur 1,23 % der äthiopischen Bevölkerung vollständig geimpft (19 a, S. 2, 5).
Im August 2021 schilderte UNICEF, das Weltkinderhilfswerk der UN, die humanitäre Lage in Tigray wie folgt: „Diese Unterernährungskrise findet inmitten einer systematischen Zerstörung der Lebensmittel-, Gesundheits-, Ernährungs-, Wasser-, und Abwasserinfrastruktur statt, auf die Kinder und ihre Familien zum Überleben angewiesen sind“ (20, S. 3).
In einem ausführlichen Bericht über das gesamte Jahr 2021 dokumentierte amnesty international die massiven Menschenrechtsverletzungen aller beteiligten Kriegsparteien. Dabei geht es um Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, um sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, um den eingeschränkten Zugang für Hilfsorganisationen, um Menschenrechtsverletzungen bewaffneter Gruppen, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen und um die Nichtbeachtung des Rechts auf Gesundheit (19 a, S. 1- 5).
Bericht der UN-Menschenrechtskommssion
Die UN-Menschenrechtskommission (OHCHR) stellte am 3.11. 2021 einen Bericht über die humanitäre Lage während des Konflikts bis Juni 2021 vor, den sie in Kooperation mit der Äthiopischen Menschenrechtskommission (Ethiopian Humanity Rights Commission – EHRC) erarbeitet hatte. Gegenstand der Untersuchung waren die Verbrechen seit Beginn des Krieges in Äthiopien um die Region Tigray im November 2020. Die EHRC ist formell unabhängig, ihre Mitglieder aber werden vom äthiopischen Parlament ernannt, dem ausschließlich Parteigänger der Regierung angehören und sie ist staatlich finanziert, so berichtet die Tageszeitung (6./ 7. 11. 2021). Behinderungen der Arbeit der Kommission von Seiten der äthiopischen Regierung haben ihre Arbeit begleitet, so sieht es Daniel Bekele, einer der wichtigsten Menschenrechtsaktivisten und Leiter der Menschenrechtskom- mission in Äthiopien (taz, 19. 11. 2021; taz 6. / 7. 11. 2021). Der Bericht der Kommission war deshalb von vielen Seiten, vor allem von tigrischer Seite als einseitig kritisiert worden (taz 6./ 7. 11. 2021; s. z B. 19b). Immerhin enthält er bereits Nachweise über zahlreiche Verbrechen seitens der Regierungsstreitkräfte, von Seiten der TPLF und von Seiten der eritreischen Armee (taz, 6./7. 11. 2021; vgl. auch SZ, 20. 12. 2020).
Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet fasste das Ergebnis dieses Berichts wie folgt zusammen: „Alle am Tigray-Konflikt beteiligten Parteien haben gegen die internationalen Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Flüchtlingsrecht verstoßen. Einige dieser Verbrechen können Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen“ (zitiertnach SZ, 4. 11. 2021; taz, 16. 3. 2021).
Die Mitarbeiter*innen der Ethiopian Humanity Rights Commission erhielten den Amnesty International-Menschenrechtspreis 2022 „für ihre selbstlose und mutige Arbeit“. In der Würdigung von amnesty wird die Kommission als unabhängig bezeichnet und ihr Einsatz als mit Repressalien und großen persönlichen Gefahren verbunden beschrieben (21, S. 2).
Daniel Bekele erhielt für seinen Einsatz für Menschenrechte und Demokratie im November 2021 von der Deutschen Stiftung Afrika den deutschen Afrikapreis 2021 (24).
Im Januar 2022, zu Beginn des äthiopisch-orthodoxen Weihnachtsfestes, ließ Abiy mehrere politische Gefangene frei. Sie gehörten verschiedenen Ethnien an. Unter ihnen waren auch zwei prominente Mitglieder der TPLF. Gleichzeitig kündigte Abiy einen „Nationalen Dialog“ zur Versöhnung an. Die Freilassung der politischen Gefangenen solle „den Weg für eine dauerhafte Lösung der Probleme Äthiopiens auf friedliche, gewaltfreie Weise ebnen“ (zitiert nach, SZ 10. 1. 2022). Im Norden gingen die Kämpfe trotz Abiys programmatischer Erklärungen jedoch sporadisch weiter (SZ 10. 1. 2022).
Im März 2022 verkündete Abiy einen Waffenstillstand in der Provinz Tigray und strebte Friedensgespräche mit der TPLF an, die bislang als „Terrororganisation“ bezeichnet wurde. Diese Ankündigung geschah sehr zum Ärger der Streitkräfte von Eritrea und der Milizen in der Amhara Provinz, die an Tigray angrenzt. Beider Ziel war die Vernichtung der TPLF (FR 21. 6. 2022).
Die TPLF ist nicht der einzige Gegner Abiys. Er ist Angehöriger der 0romo-Ethnie, deren Bevölkerung sich seit langem über Benachteiligung durch die Zentralregierung beklagte und schließlich massenhaft für politische Reformen und politische Teilhabe demonstrierte. Abiy – nunmehr Ministerpräsident und selber Oromo– war ihr Hoffnungsträger. Sein Konzept, Stärkung der Zentralregierung zum Nachteil der bundesstaatlich organisierten Ethnien, lehnten sie ab, verlangten mehr ökonomische Vorteile für ihre Gruppe, die doch etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Äthiopiens ausmachte. Viele 0romo warfen ihm nun Verrat vor.
Auch die Kämpfer der „Oromo Befreiungsfront (OLF)“ wandten sich gegen die unitarische Politik Abiys. Auch sie wollen an einem starken föderal organisierten Staat und dem Selbstbestimmungsrecht für die Provinzen festhalten (SZ, 21. 6. 2022; FR, 21. 6. 2022).
Auch ansonsten kam die Bevölkerung Äthiopiens auch nach Abiys Friedensangebot nicht zur Ruhe. Der Westen der Provinz Tigray ist von amharischen Milizen und eritreischen Truppen besetzt: die Amharer behaupten, dass ihnen diese Region bei Gründung des äthiopischen Staates weggenommen worden sei. Dieser Dissens steht dem von Abiy angestrebten Friedensschluss entgegen (FR 21. 6. 2022).
Hintergrund von Abiys neuerdings auf Frieden ausgerichteter Politik ist die Tatsache, dass Äthiopien wirtschaftlich außerordentlich schwach geworden ist: seit Jahren herrscht eine große Dürre, die das Land von externer Nahrungsmittelhilfe abhängig gemacht hat. Außerdem haben die USA Sanktionen angekündigt, für den Fall, dass der Krieg weitergeführt wird. Abiy muss also für Ruhe im Land sorgen. Das erklärt, weshalb er Ende Mai 2022 Säuberungen in der Amhari-Provinz angeordnet hat: 4000 nationalistische Vertreter*innen wurden verhaftet. Die Amhara-Milizen versetzte dies in Alarmzustand (FR, 21. 6. 2022).
Bei einem Massaker vor allem an Angehörigen der Ethnie der Amhara im Juni 2022 sind zwischen 100 und 300 Menschen getötet worden. Opfer wurden in Massengräber geworfen, Häuser in Brand gesteckt. Unklar blieb, wer für diesen Überfall auf Zivilisten verantwortlich war: die Regierung, die staatliche Menschenrechtskommission (EHRC) und die Regionalregierung von Oromia machten die OLF dafür verantwortlich. Diese wiederum behauptete, eine mit der Zentralregierung verbündete 0romo-Miliz habe das Massaker verursacht (FR 21. 6. 2022; SZ 21. 6. 2022).
Die Vollversammlung des Menschenrechtsrats der UN beschloss im Dezember 2021 eine weitere Untersuchung: Alle am Krieg beteiligten Parteien müssten Verantwortung für von ihnen begangene Verbrechen übernehmen. Drei Experten sollen Vorwürfe wegen Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts für die gesamte Zeit seit Beginn des Krieges am 3. 11. 2020 untersuchen. Sie sollen Beweise sammeln und die juristische Aufarbeitung vorbereiten. Äthiopiens Regierung lehnt dieses Vorhaben als „Ausdruck einer neokolonialen Mentalität“ ab. Sie wurde dabei von anderen afrikanischen Ländern, sowie von China, Russland, Indien und Pakistan unterstützt (SZ 20.12. 2022).
Meinungs- und Pressefreiheit in Äthiopien.
Seit Jahren verschlechtert sich die Menschenrechtslage in Äthiopien. Jegliche Opposition wird systematisch unterdrückt.
„Wir dokumentieren fast ununterbrochen neue Menschenrechtsverletzungen“ – sagt Fisseha Mengistu Tekle, researcher bei amnesty international. Dissidenten*innen werdenan ihrer Arbeit gehindert, eventuell strafrechtlich verfolgt, Inhaftierungen erfolgen ohne Begründung, die Verantwortlichen bleiben straflos. „Der zeitliche Abstandzwischen den Gräueltaten, die von der Regierung und von regierungsnahen Institutionen verübt werden, wird immer kürzer“. – so ergänzt Tekle.
Ende des Jahres 2021 verhängte Abiy – wie schon gesagt -den Ausnahmezustand. Für Medienschaffende, zivilgesellschaftliche Aktivisten und Protestierende bedeutete dies z.B. Inhaftierungen ohne Begründung und andere Repressionen bis hin zur Tötung durch Sicherheitskräfte, die nicht zur Rechenschaft gezogen wurden (22, S. 46 ).
Ethiopian Broadcasting Authority heißt die Medienaufsichtsbehörde in Äthiopien. Sie ist u.a. befugt, ausländischen Journalisten*innen Genehmigungen zu erteilen und sie bestimmt, wo im Land sich Reporter*innen aufhalten dürfen. Sie kann Recherchen verbieten.
Fritz Schaap, Reporter des SPIEGEL berichtete im Dezember 2020, dass die Konfliktregion Tigray für Journalisten gesperrt ist. Das Telephonnetz „ist weitgehend gekappt, ebenso das Internet“ (17, S.89).
Im Dezember 2020 wurden ausländische Journalisten aus Äthiopien ausgewiesen, weil sie „über landesweite und systematische Diskriminierung von tigray-stämmigen Bürgern und eine staatliche Verfolgung von Oppositionellen berichtet hatten“ (zitiert nach 14, S.4).
Im April 2022 waren neun Mitglieder der Medienaufsichtsbehörde (EBA) neu zu ernennen: das Unterhaus des äthiopischen Parlaments winkte die vom Abiy vorgeschlagenen Namen einfach durch. Im Mediengesetz ist dagegen bestimmt, dass die EBA unabhängig sein muss und keine Mitglieder oder Mitarbeiter politischer Parteien in ihrem Vorstand haben darf. Gegen diese Festlegung wurde mit der Bestätigung der neuen EBA-Mitglieder verstoßen (23, S.3).
Im Juni 2022 berichtete Reporter ohne Grenzen, dass der Chefredakteur des Oromia News Network, Dessu Dulla und derModerator des gleichen Senders, Bikila Amenu seit Ende 2021 inhaftiert sind.Sie hatten Verbrechen in den Regionen Tigray und Oromia dokumentiert. Daraufhin wurden ihnen Verstöße gegen die Verfassung des Landes vorgeworfen. Dies gilt als Straftat, die mit der Todesstrafe geahndet werden kann (23, S.1).
In mehreren Landesteilen Äthiopiens geschehen seit Anfang des Jahres 2021 schwerste Menschenrechtsverletzungen: Etwa 6 000 Menschen sind festgenommen worden, unter ihnen auch Medienschaffende.
Im Mai 2022 wurden mindestens 18 Journalisten und Reporter innerhalb von 10 Tagen verhaftet.
Viele der Festgenommenen berichten für unabhängige Medien oder auf YouTube-Kanälen über die politische Lage im Land. Ihnen wird zur Last gelegt, sie hätten zur Gewalt aufgestachelt, Unfrieden gestiftet. Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil einige unter ihnen seit mehreren Jahren nichts mehr auf You-Tube-Kanälen publiziert hatten. Ihre Namen und Medienzugehörigkeit: Meaza Mohammed (Rohe TV), Sabontu Ahmed (Finfinnee Integrated Broadcasting), Solomun Shuye (Gebeyanu Media), Yayasew Shimelis (ehemals bei Ethio Forum Media), Temesgen Desalegn (Feteh Magazine) .
Die Verhaftungen begannen in der Region Asmara: In Asmaras Hauptstadt Bahir Dar traf es vier Journalisten der Nisir International Broadcasting Corporation und fünf Journalisten des Ashara YouTube-Kanals. Sie wurden verdächtigt, die FAN0 zu unterstützen, eine in Amhara aktive Miliz, welche die Regierung für eine Bedrohung hält.
Manche der Verhafteten sind seit längerer Zeit in Isolationshaft. Meskerem Abera vom YouTube-Kanal Ethio Nekat Media sollte vor Gericht erscheinen. Gobze Sisay wurde neun Tage lang „unter unklaren Umständen“ festgehalten. All diese Maßnahmen verstoßen gegen das Mediengesetz.
Die massiven Razzien gegen die Medien werden voraussichtlich fortgesetzt. Im Mai 2022 teilte die Bundespolizei mit, es seien 111 Internetmedien identifiziert worden, die täglich damit beschäftigt seien, falsche Propaganda zu verbreiten. Sie würden gegen Bezahlung interethnische und interreligiöse Konflikte schüren, die Sicherheit und den Frieden Äthiopiens stören, Hassreden halten.
Die Verhaftungen sind eine zusätzliche Bedrohung für Journalisten*innen und Medienschaffende, deren Berichtsmöglichkeiten durch die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und TPLF-Truppen ohnehin bereits eingeschränkt sind. Das hat einige äthiopische Medienschaffende, die permanenten Drohungen ausgesetzt waren, gezwungen, Äthiopien zu verlassen. So z. B . Lucy Casa, die freiberuflich für Al Djasira gearbeitet hatte. Sie war wegen ihrer Arbeit bedroht worden, wurde sogar in ihrem Haus in Addis Abeba von 3 Männern angegriffen und beschuldigt.
Auch ausländische Journalisten wurde die Akkreditierung entzogen und sie wurden anschließend ausgewiesen: so z.B. Tom Gardner, Korrespondent des „Economist“ in Addis Abeba. Simon Marks, Reporter der „New York Times“ in Addis Abeba, wurde sogar ohne Vorwarnung oder Begründung im Mai 2021 zur Ausreise gezwungen (23, S. 2 f.).
Der Journalist Eskinder Nega, 52 Jahre alt, hat bereits mehr als ein Fünftel seines Lebens im Gefängnis verbracht. Seit 1993 wurde er zehnmal inhaftiert, mehrfach angeklagt und verurteilt. Im Januar 2021 konnte er das Gefängnis zuletzt verlassen, nachdem er 1 ½ Jahre inhaftiert war. Wie viele andere Journalisten hatte er über die Lage in Äthiopien berichtet. Er will weiterhin kämpfen, bis Demokratie und Freiheit in Ä. erreicht sind (16, S. 17).
Der Autor und Blogger Befeqadu Hailu Techane war für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet worden. Er hatte mit anderen Kollegen u.a. auf die kritische Situation von politischen Gefangenen in Äthiopien aufmerksam gemacht und setzt sich für eine Besserung der Menschenrechtslage in seinem Land ein. Mit anderen gründete er das „Center for Advancement of Rights and Democracy“, eine Organisation, die demokratische Prinzipien in Äthiopien etablieren wollte. Deswegen wurde er inhaftiert, isoliert und gefoltert (22, S. 47).
Am 3. Juni 2022 haben 17 journalistische Vereinigungen und Medien aus Äthiopien sich in einer öffentlichen Erklärung für die Sicherheit von Journalisten*innen und Reportern*innen in ihrem Land eingesetzt.
Reporter ohne Grenzen hat Äthiopien in Sachen Pressefreiheit auf Platz 114 der Liste gesetzt. Insgesamt stehen 180 Staaten auf dieser Liste. (23, S. 1-3) .
„Solange es Menschen gibt, die ihre Augen vor Ungerechtigkeit nicht verschließen, wird es ein demokratischeres Äthiopien geben“ – schreibt der Autor Befeqadu Hailu Techane. So lautet –kurz gefaßt – seine Überzeugung, die ihn antreibt, seine gefahrvolle Arbeit fortzusetzen (22, S. 47).
Stand: 8 / 2022
Literatur:
Fachliteratur über Äthiopien findet man aufgelistet im Internet
Romane
Maaza Mengiste
wurde im Jahr 1971 in Addis Abeba geboren. Sie lebt heute in New York.
In ihrem Roman „Der Schattenkönig“ richtet die Autorin ihre Aufmerksamkeit auf die Zeit um 1935, als Mussolinis Truppen in Äthiopien einfielen. Sie berichtet über den Widerstand gegen den Faschismus, der von Männern, vor allem aber von Frauen geleistet wird. Die junge Hirut, eine Waise in den Diensten eines Offiziers von Kaiser Selassie ist eine von ihnen. Sie findet einen Weg, das Land zu inspirieren und ihre Heimat vor der Selbstaufgabe zu retten.
Anmerkungen:
1) wikipedia, Ezana, abgerufen am 9. 8. 2022
1a) Thea Büttner, Afrika. Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Teil I, Köln 1979
2) wikipedia, Die Geschichte des Christentums in Äthiopien, abgerufen am 28. 7. 2022
3) Joseph Ki-Zerbo, Die Geschichte Schwarz-Afrikas, Frankfurt 1981
4) wikipedia, Äthiopische Schrift, abgerufen am 28. 7. 2022
5) wikipedia, Äthiopien, abgerufen am 28. 7. 2022
6) wikipedia, Kaiserreich Abessinien, abgerufen am 4. 8. 2022
7) wikipedia, äthiopischer Kalender Monate, abgerufen am 28. 7. 2022
8) wikipedia, Liste der Ministerpräsidenten Äthiopiens, abgerufen am 1. 8. 2022
9) wikipedia, Liste der Staatsoberhäupter Äthiopiens seit 1974, abgerufen am 3. 8.2022
10) Der neue Fischer Weltalmanach 2019 , Stichwort Äthiopien, S. 48 f.
11) wikipedia, Wirtschaft Äthiopiens, abgerufen am 29. 7. 2022
12) africa business guide, Länderprofil Wirtschaft in Äthiopien, abgerufen am 1. 8.2022
13) Norbert Wagner / Martin Kaiser, Ökonomie der Entwicklungsländer, 3. Auflage,Stuttgart Jena 1995
14) wikipedia, Abiy Ahmed, abgerufen am 5. 7. 2022
15) Laura-Mai Gaveriaux und Noé Hochet-Bodin, Wer kämpft in Tigray?
In: Le monde diplomatique 7 / 2021, S. 1 ff.
16) Franziska Ulm-Düsterhöft, Die Hoffnung auf Freiheit bleibt,
in: Amnesty Journal 3 / 2022, S.16. f.
17) Fritz Schaap, Im Reich der Angst, in: Der Spiegel Nr. 51/12. 12. 2020, S. 88-90
18) Gérard Prunier, Hoffnung am Horn, in: Le monde diplomatique 11 / 2018, S. 11
19a) Amnesty Report Äthiopien 2021, 29. 3. 2022, abgerufen am 10. 8. 2022
19b) Tigray Unity Germany, Stimme der Stimmlosen – Deutschland für Tigray,
Äthiopische Menschenrechtskommission (EHRC), abgerufen am 11. 8. 2022
20) wikipedia, Zweiter äthiopischer Bürgerkrieg, abgerufen am 4. 7. 2022
21) amnesty international, Zwischen den Fronten: Menschenrechte in Äthiopien, Berlin 2022
22) Parastu Sherafatian, Kritische Stimmen unerwünscht, in: Amnesty Journal 4 / 2022, S. 46
22) Befeqadu Hailu Techane, „Der internationale Focus hat sich verschoben“, in:
Amnesty Journal, 4 / 2022, S. 47
23) Reporter ohne Grenzen, Medien in den Mühlen des Bürgerkriegs, Äthiopien, 8. 6. 2022
24) wikipedia, Daniel Bekele, abgerufen am 11. 8. 2022
25) Der neue Fischer Weltalmanach 2016, Frankfurt 2015
26) Der Beginn des Zweiten Weltkriegs in Äthiopien, in:
Rheinisches JournalistInnenbüro, „Unsere Opfer zählen nicht“.
Die dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, hsg.
Recherche International e.V., Berlin / Hamburg 2005, S. 55 – 63
FR Frankfurter Rundschau
SZ Süddeutsche Zeitung
taz Tageszeitung
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung
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