„Absolute Macht ist ein Fehler… Wir Araber haben schlechte Erfahrungen gemacht mit scheinbar aufrichtigen, patriotischen Anführern, die sich viel zu schnell in Diktatoren verwandelten. Von solchen Anführern rühren unsere Leiden, unsere Notlagen, Niederlagen und Bürgerkriege zum Großteil her“
Jamal Kashoggi, Journalist, über den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (posthum)
Das arabisch-saudische Königreich Arabien – Saudi-Arabien
wurde im Jahr 1932 von Abd al-Aziz Ibn Abdar-Rahman Ibn Faisal Al Sa’ud, genannt Ibn Saud, ausgerufen. Ibn Saud war ein beduinischer Stammesfürst. Er stammte aus dem Zentrum der Arabischen Halbinsel.
Schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts bestand zwischen der Familie der Al-Sauds und der islamischen Geistlichkeit sunnitisch-wahhabitischen Glaubens eine enge Verbundenheit. Ibn-Saud und Muhammad Bin Abd al-Wahhab intensivierten diese Allianz. Wahhab vertrat einen radikalen orthodoxen Islam, der die buchstabengetreue Auslegung des Koran als die allein gültige anerkannte. Er verschaffte Ibn Saud die religiöse Legitimation als Herrscher und Vertreter des „wahren Islam“. Als „Hüter der beiden heiligen Stätten“ – gemeint sind Mekka und Medina – verkörperte Ibn Saud die höchste religiöse Autorität Saudi-Arabiens. Im Gegenzug erhielten Wahhab und sein Clan von Ibn Saud weitgehende Privilegien, die ihm und seiner radikalen Lehre, dem Wahhabismus, Schutz sicherten und Weiterverbreitung ermöglichten (11, S. 25f., 37; 24, S. 26 ff., 7o f.; 12, S. 3).
Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie. Es gibt kein Parlament, Wahlen gibt es – seit 2015 – nur auf kommunaler Ebene (5, S. 387). Danach islamischer Rechtsauffassung Gott den Menschen Gesetze gegeben hat, die in Koran und Sunna niedergelegt sind, können die Menschen selber keine Gesetze erlassen. Verbindliche Regeln von Seiten der saudischen Regierung heißen daher nicht „Gesetze“ sondern „Verordnungen“ und dürfen der Scharia nicht widersprechen (30, S. 279).
Ministerposten werden in der Regel mit Angehörigen der Familie Saud besetzt. Regierungsbeamte und Richter ernennt der König oder einer seiner Vertrauten. Saudi- Arabien ist weltweit – neben dem „Haschemitischen Königreich Jordanien“ – der einzige Staat, der den Namen der Familiendynastie im offiziellen Landesnamen trägt (24, S. 136).
Saudi-Arabien und der Arabische Frühling
Seit Anfang des Jahres 2011 begannen in mehreren arabischen Ländern –Tunesien, Ägypten, etc.- Revolten gegen die jeweiligen autokratischen Regierungen. Mitbestimmung durch Wahlen, Einrichtung demokratischer Institutionen, Freiheit, Würde und soziale Gleichstellung, so lauteten wesentliche Forderungen dieser Bewegung (1, S. 5; 27, S. 112). Der sogenannte „arabische Frühling“, drohte im Verlaufe des Jahres 2011 auch auf Saudi-Arabien überzugreifen. Die Einzigartigkeit als islamisch-wahhabitischer Staat, das gesamte Herrschaftsgefüge, dominiert von der Familie Sa’ud, wäre infrage gestellt worden, wenn derartige Forderungen erfüllt worden wären (1, S. 5).
Im Jahr 2005 war Abd Allah Ibn Abd al-Aziz Al-Sa‘ud König in Saudi-Arabien geworden. Seine Regierung begegnete der drohenden Rebellion mit der Politik staatlicher Wohlfahrt: Die Bevölkerung wurde regelmäßig mit finanziellen Geschenken ruhiggestellt. In den ersten Jahren der Arabischen Rebellion wurden 130 Mrd. $ ausgegeben, u.a. um die Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst um 15% zu erhöhen und um 500 000 Wohnungen bauen zu lassen. Anlässlich der Thronbesteigung des Nachfolgers Salman ibn Abd al-Aziz Al Sa’ud (König Salman) im Jahre 2015 waren es nochmals 32 Mrd. $., vorgesehen für staatlich geförderte Programme in den Bereichen Bildungspolitik, Wohnungsbau und Gesundheitsversorgung, Investitionen in erneuerbare Energien und in die Landwirtschaft (8, S. 10; 24, S. 151).
Im Gegensatz dazu standen die Sparmaßnahmen, die gegen Ende des Jahres 2016 durch königliches Dekret angeordnet wurden: Ministergehälter wurden um 20 % gekürzt, andere staatliche Zuschüsse für öffentliche Bedienstete, z.B. für Fahrzeuge, Kraftstoff oder Wohnungen ebenfalls verringert. Diese Maßnahmen waren Folge des seit Mitte 2014 stark gesunkenen Ölpreises. Da jedoch 70 % aller Erwerbstätigen damals im öffentlichen Dienst beschäftigt waren, war ein mehrheitlicher Teil der Bevölkerung von diesen Einschränkungen betroffen. Nicht zuletzt deshalb wurden sie schon im April 2017 teilweise wieder zurückgenommen (6, S. 391 f.).
In der überwiegend von Schiiten bewohnten Ostprovinz Saudi-Arabiens kam es seit längerem zu Unruhen und Protesten. Sie wurden u.a. hervorgerufen durch die zunehmende antischiitische Propaganda von seiten der wahhabitischen Geistlichen, die seit Beginn des Krieges gegen den Jemen nochmals ausgeweitet wurde (16, S. 388). Schiitische Gläubige gelten als „Ketzer“ und „Abtrünnige“ gegenüber dem wahren Islam der Wahhabiten.
Etwa 10 bis 15 % der saudischen Bevölkerung, d.h. 3 bis 5 Millionen Menschen sind schiitischen Glaubens. Sie werden gesellschaftlich und wirtschaftlich diskriminiert, sind „Untertanen zweiter Klasse“. Immer wieder erhoben sich die saudischen Schiiten gegen diese Ungleichbehandlung. In der neueren Zeit beantwortete Mohammed bin Salman die Aufstände der Schiiten, indem er ihnen ihre abweichende Religion vorhielt und sie als „Agenten Irans“ abstempelte (24, S. 94 f.).
Neuregelung der Thronfolge
Seit dem Tod des Staatsgründers Ibn Saud gab es innerhalb des Königshauses einen informellen Konsens über die Reihenfolge der Thronfolger (11, S.35). König Salman durchbrach diesen Konsens. Anstelle seines Neffen, der als sein Nachfolger vorgesehen war, ernannte er seinen Sohn 31-jährigen Mohammed bin Salman al-Sa’ud, genannt MBS, im Juni 2017 zum Kronprinzen. Die rivalisierenden Abstammungslinien schloss er –z.T. gewaltsam- aus und sicherte für die Zukunft der Salman-Linie die alleinige Thronfolge (11, S. 135; 8, S. 10; 24, S. 144f.).
MBS hatte bis dahin das Amt des Verteidigungsministers, des Aufsichtsratsvorsitzenden der staatlichen Erdölgesellschaft ARAMCO, bzw. dessen geschäftsführender Vorstand und das Amt des Vorsitzenden des Rates für Wirtschaft und Entwicklung inne(6, S. 391; 11, S. 135; 24, S.144 f.).
Reformen in Saudi-Arabien?
Schon von den Vorgängern Mohammed bin Salmans wurden Lockerungen in der bis dahin streng religiös ausgerichteten Gesellschaft Saudi-Arabiens zugelassen. Mit aller Vorsicht, waren doch Koran und Sunna (Überlieferung des Propheten Muhammad) seit 1992 in der Verfassung des Landes verbindlich festgeschrieben. Gesichert war damit in Saudi-Arabien auch die Geltung und Anwendung der „Scharia“, des islamischen Rechts. (11, S. 25f.; 24, S. 26ff.; 12, S. 3ff.).
Z.B. im Bildungsbereich und im Bereich des Justizwesens wurden Reformen angeordnet: Gerichtliche Verfahrensabläufe sollten transparenter und schneller werden, Familiengerichte wurden eingerichtet, Frauen durften seit 2010 (FAZ, 19. 8. 2016), bzw. seit 2013 (taz 6.7. 2018) als Anwältinnen vor Gericht auftreten.
Im Jahr 2005 fanden erstmals Gemeinderatswahlen statt – ohne Beteiligung von Frauen. Allerdings hatten die gewählten Gemeinderäte nur geringe Entscheidungskompetenzen.
Saudische Intellektuelle beurteilten diese Reformen denn auch als „unumgängliche Modernisierungsmaßnahmen“ eher, denn als „Schritte hin zu einer Veränderung der grundsätzlichen Herrschaftsverhältnisse“ (2, S. 2).
Mohammed bin Salman: Kronprinz mit zwei Gesichtern
MBS versteht sich als Reformer der Innenpolitik: Neuerdings gibt es in Saudi-Arabien Kinos, Konzerte, eine Oper ist geplant. Im April 2020 sorgte er dafür, dass das Auspeitschen verboten und die Todesstrafe für Minderjährige abgeschafft wurde (14, S. 1).
Frauen dürfen nunmehr ohne Zustimmung eines männlichen Vormunds reisen, ein Universitätsstudium beginnen, über eine medizinische Behandlung entscheiden (6, S. 392). Seit Mitte 2018 dürfen Frauen Auto und Fahrrad fahren, joggen, an öffentlichen Sportveranstaltungen teilnehmen und in die nationale Armee eintreten. Die Religionspolizei übt mehr Zurückhaltung im Hinblick auf die strengen Kleidervorschriften und die Einhaltung der Gebetszeiten (7, S. 400; taz 16. 7. 2018; FAZ 19. 8. 2016). Die strenge Geschlechtertrennung wurde jedoch beibehalten.
Im krassen Gegensatz dazu gab es im gleichen Jahr 2018 in Saudi-Arabien eine große Verhaftungswelle, bei der u.a. die bekanntesten Vorkämpferinnen für die Rechte der Frauen festgenommen wurden. Man warf ihnen Hochverrat vor: Kontakt zu ausländischen Organisationen, deren Ziel es sei, die Stabilität Saudi Arabiens, sein soziales und religiöses Gefüge, zu bedrohen (taz 16. 6. 2018; 7, S. 400).
Frauenrechte – Menschenrechte
So wurde z.B. die saudische Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul zu 5 Jahren Haft verurteilt, davon wurden 2 Jahre und 10 Monate zur Bewährung ausgesetzt (taz 8. 10. 20; FR 29. 12. 2020). Sie hatte sich dafür eingesetzt, dass Frauen Auto fahren dürfen und hatte ein Ende der männlichen Vorherrschaft gefordert. Amnesty international berichtete, dass sie im Gefängnis gefoltert, sexuell belästigt und in Einzelhaft gehalten wurde (10, S. 1f.). Die Frauenrechtlerin Mayaa al-Zahratin erhielt eine gleich hohe Strafe wegen ähnlicher Tatvorwürfe und für ihren Einsatz zugunsten ihrer Kollegin Nouf Abdulaziz, die sich für Frauenrechte engagiert und andere Themen bearbeitet hatte, die das Haus Saud als sensibel einstufte. Andere Aktivistinnen sind weiterhin in Haft (SZ, 30. 12. 2020).
Viele andere Kämpferinnen ereilte das gleiche Schicksal (14, S. 2). Loujain al-Hathloul wurde im Februar 2021 auf Bewährung entlassen und darf Saudi-Arabien während der nächsten 5 Jahre nicht verlassen (FR, 12. 2. 2021)
Aus der Gleichzeitigkeit von Reform und Repression folgt: Menschenrechte dürfen in Saudi-Arabien nicht von unten erkämpft werden, sondern werden ausschließlich von oben gewährt – und können ebenso wieder genommen werden (FR 29. 12. 2020; SZ 30. 12. 2020; 14, S. 2). Wer sich nicht daran hält, wird eingesperrt, weil er/sie sich für genau diese Menschenrechte bzw. Reformen eingesetzt hatte.
Politische Aktivitäten in Richtung Mitbestimmung und öffentlich geführte Reformdebatten sind tabu und unter Umständen strafrechtlich relevant, bzw. werden brutal unterdrückt (taz 8. 10. 2020 und 14. 10. 2020).
In die strikte Reglementierung der Rechte der Frauen kommt allerdings in den letzten Jahren Bewegung: von Seiten des Königs und von Seiten der Frauen. Ende 2015 wurden in Saudi-Arabien erneut Kommunalwahlen abgehalten. An diesen Wahlen konnten erstmals Frauen mit aktivem und passivem Wahlrecht teilnehmen. 979 von 7000 Kandidaten/innen waren Frauen. Bekannte Frauenrechtlerinnen war die Teilnahme an diesen Wahlen allerdings verboten worden (5, S. 387). In die Gemeinderäte wurden schließlich 19 Frauen gewählt. Dies, obwohl die Kandidatinnen nicht direkt zu den männlichen Wählern sprechen und auf den Wahlplakaten keine Fotos von ihnen abgebildet werden durften (24, S. 87).
Frauen selbst werden zu Initiatorinnen einer Emanzipation, die sich nicht im öffentlichen Aufbegehren gegen Reglementierung äußert, sondern in der Ausnutzung von sich bietenden Freiräumen. So waren schon vor einigen Jahren mehr als die Hälfte aller Studierenden und mehr als die Hälfte aller Universitätsabsolventen/innen in Saudi-Arabien Frauen. Die Zahl der Firmenchefinnen wurde bereits auf etwa 50 000 geschätzt. Auch wenn Firmen offiziell von Männern geführt werden, kann es sein, dass die Tagesgeschäfte von einer Frau geleitet werden. Frauen mit bester Ausbildung können in Führungspositionen gelangen.
Im privaten Bereich allerdings ergeben sich daraus vielfältige Probleme: z.B. ist die Scheidungsrate in Saudi-Arabien eine der höchsten der Welt. Häufig liegt dem zugrunde, dass der Mann das Gehalt seiner Frau kontrollieren will oder er ihr untersagt zu arbeiten und/oder dass der Mann sich häusliche Gewalt zuschulden kommen lässt (24, S. 86).
Arbeitsmigranten:innen – die Sklaven:innen von heute
Seit Gründung des Staates Saudi-Arabien werden ausländische Arbeiter:innen ins Land geholt. In den 50er und 60erJahren waren dies vor allem Verwaltungsangestellte und Lehrer aus arabischen Ländern (Jemen, Ägypten, Libanon, Syrien), die zum Aufbau der saudischen Staatsinstitutionen entscheidend beitrugen. Anfang der 70er Jahre stammten bereits 70 % der städtischen Arbeitnehmer:innen aus dem Ausland. Die saudische Regierung legte Wert darauf, diese „Gast“arbeiter:innen nicht zu integrieren, sah man doch die Gefahr, dass sie Ideen der Muslimbruderschaft verbreiten würden. Nicht zuletzt deshalb wurden die arabischen Migranten etwa ab 1973 durch südasiatische ersetzt. Heutzutage kommen mehr als 2/3 aller Arbeitsmigranten/innen aus Asien. Insgesamt wird ihre Zahl im Jahr 2013 auf 9 Mio. geschätzt (15, S. 388).
Die Gastarbeiter/innen leben unter menschenunwürdigen Bedingungen: Z.B. vegetieren tausende Bauarbeiter bei größter Hitze zusammen gepfercht in kleinen Containern, müssen 7 Tage in der Woche bis zu 12 Stunden täglich arbeiten und erhalten kaum medizinische Versorgung, wenn sie krank werden. Unfälle und Todesfälle auf den Baustellenbleiben ohne Folge. Sie leben abgeschottet von der saudischen Gesellschaft, in Parallelgesellschaften. Schlaf- und Essensentzug, Schläge mit Stöcken oder Steinen gehören zu ihrem Alltag. Asiatische Hausangestellte erleiden schlechte Behandlung und Vergewaltigung. „Sie werden von ihren saudischen Arbeitgebern mehr als auszubeutende Arbeitstiere denn als Menschen betrachtet“ (Zitat: 24, 159). Menschenrechtsorganisationen brandmarken dies zu Recht als „moderne Sklaverei“.
Arbeitsmigranten sind in Saudi-Arabien faktisch Leibeigene ihres Arbeitgebers. Er kann ihnen den Reisepass abnehmen, so dass sie ihre Arbeitsstelle nicht verlassen und sich auch nicht frei bewegen können. Ist der Arbeitgeber unzufrieden mit der Arbeit, kann er den Vertrag kündigen, sofort und ohne Begründung. Infolgedessen erlischt die Aufenthaltsgenehmigung und der/die Arbeitsmigrant/in muss das Land verlassen.
Einbürgerung von Gastarbeitern kommt fast nie vor. Unverhältnismäßig hoch soll die Zahl hingerichteter nicht-muslimischer Gastarbeiter sein (24. S. 158; 9, S. 8).
Seit 2013 betreibt die saudische Regierung verstärkt Ausweisungen mit dem Ziel, die hohe Arbeitslosigkeit unter Einheimischen zu reduzieren. Um 2013 lag diese Arbeitslosenquote bei offiziell 12 %, geschätzt wurde sie auf ca. 30 % (15, S. 388). Für das Jahr 2017 wird sie offiziell mit 5,5 % angegeben (7, S. 399).
Human Rights Watch berichtete im Dezember 2020, dass hunderte Arbeitsmigranten/innen unter grausamen Bedingungen in einem Deportationszentrum festgehalten werden. Aufseherinnen würden foltern und prügeln. Die vorwiegend aus Äthiopien kommenden Arbeiter/innen seien in überfüllten Räumen zusammengepfercht. Zwischen Oktober und November 2020 sollen mindestens 3 Menschen gestorben sein (FR 16. 12. 2020).
Entwicklungsplan „Vision 2030“
Zum Kronprinzen aufgestiegen, stellte MBS in der Öffentlichkeit seine sog. „Vision 2030“ vor. Das Konzept hierzu wurde von einer US-Beratungsfirma entwickelt. Ziel ist es, die Wirtschaft Saudi-Arabiens breiter aufzustellen und langfristig vom Öl unabhängig zu machen. Deshalb sind z.B. 16 Kernkraftwerke und der Ausbau erneuerbarer Energien geplant (27, S. 179); 14, S. 2).
Der geplante Staatsfonds („Public Investment Fund“ – PIF) soll zum weltweit größten Staatsfonds ausgebaut, der Staatshaushalt auf diesem Weg gegen Preisschwankungen auf dem Rohstoffmarkt abgesichert und es sollen Entwicklungsvorhaben finanziert werden. Darüber hinaus soll der Staatsfonds der Herrschaftssicherung MBS‘ dienen‘: Er soll direkten Zugriff auf umfangreiche finanzielle Ressourcen des Staates erhalten, die er im eigenen Interesse einsetzen und mittels derer er sich innen- wie außenpolitisch Loyalitäten erkaufen kann (5, S. 388; 18, S. 1).
Ein wesentlicher Teil der Vision 2030 ist der Aufbau einer Planstadt, genannt „Neom“. Der Name setzt sich zusammen aus néos (altgriechisch) – neu – und mustaqbal (arabisch) – Zukunft. Diese Megastadt soll im äußersten Nordwesten Saudi-Arabiens auf einer Fläche von 26.500 Quadratmetern (das entspricht etwa der Größe Mecklenburg-Vorpommerns) errichtet und überwiegend aus dem saudischen Staatsfonds finanziert werden. Für Neom sind Investitionen von bis zu 500 Mrd. $ vorgesehen. Die Technologie soll vollautomatisch ausgerichtet sein, d.h. Roboter, flächendeckendes Internet, Drohnen, autonome Autos, modernste Energie- und Gebäudetechnik. Um unerwünschte Personen auszuschließen, soll Neom mit einem Gesichtserkennungssystem ausgestattet werden. Der Stadt soll außerdem eine weitgehende verwaltungsmäßige und steuerliche Selbständigkeit gewährt werden (28).
Die Realisierung dieses Projekts bringt schwerwiegende Probleme für die dort ansässige Bevölkerung mit sich. Der Al-Howeitat-Stamm lebt seit Jahrhunderten in dieser Region. Im Mai 2020 wird von Zwangsräumungen und Widerstand dagegen berichtet, von darauffolgenden Verhaftungen von Stammesmitgliedern, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen. Einer von ihnen machte seinen Widerstand öffentlich, sprach von „Zwangsumsiedlung“ und „Staatsterror“ und wurde kurz darauf getötet.
Die Menschenrechtsorganisation Alqst wirft den Behörden vor, diesen Mord zu vertuschen, indem sie Stammesmitglieder mit fünfstelligen Summen zum Schweigen bringen würden (19, S. 2).
Sachkundige Beobachter halten das Projekt 2030 für „weitgehend gescheitert“. Zunehmende Finanzierungsprobleme in Zusammenhang mit dem rasanten Bevölkerungswachstum seien z. B. dafür verantwortlich. Auch von anderen Staaten in der Golfregion seien vergleichbare Projekte geplant und nicht fertiggestellt worden. Sie seien außerdem nur zu einem hohen Preis zu realisieren: die hohen Sommertemperaturen erforderten eine große Anzahl von Klimaanlagen, die erheblich zur Erderwärmung beitrügen (27, S.180; 28; 19, S. 2)
Außenpolitik Mohammed bin Salmas‘
Im Mai 2017 empfing MBS den damaligen US-Präsidenten Donald Trump und Jared Kushner, dessen Schwiegersohn. Dem pompösen Empfang folgten bilaterale Handelsverträge im Wert von 380 Mrd. US $. Darin enthalten waren Rüstungskäufe Saudi-Arabiens in den USA im Wert von 110 Mrd. US $ (6, S. 393).
Die Tatsache, dass 15 der 19 Täter des 11. September 2001 aus Saudi-Arabien stammten, die ideologische Nähe zwischen Wahhabismus einerseits und Djihadismus bzw. islamistischem Terror andererseits und die Verbindung zwischen Saudi-Arabien und Al Qaida waren Trump nicht der Rede wert (11, S. 130). Beide verband vielmehr die gemeinsame Feindschaft gegenüber dem schiitischen Iran: „Antiiranische und antischiitische Paranoia ist in Saudi-Arabien ganz offensichtlich Staatsraison“, so fasst ein Nahostexperte die Situation zusammen (11, S. 131; 27, 118 f.; 6, S. 393).
Die Westbindung der Außenpolitik Saudi-Arabiens besteht bereits seit 1915. Damals verbündete sich Ibn Saud mit Großbritannien. Später wurden die USA der wichtigste Bündnispartner: sie schützten Saudi-Arabien vor der Sowjetunion. Im Gegenzug lieferte Saudi-Arabien ab 1945 in stetig wachsendem Umfang Öl an die USA (4, S. 1; 27, S. 119).
Jemen: „Impulsive Interventionspolitik“
Unter König Salman wurden im März 2015 erstmals Luftangriffe gegen Ziele im Jemen geflogen. MBS hatte als Verteidigungsminister die Führung dieser Luftoffensive übernommen. Mit den Staaten des Golf Kooperationsrates und weiteren –von Saudi-Arabien finanziell unterstützten- Partnern (Ägypten, Jordanien, Sudan, Marokko und Pakistan) hatte er sich zu diesem Zweck verbündet. Motiviert war seine Intervention durch die Sorge, der Erzfeind Iran werde seinen Einfluss in der Region ausbauen. Durch den Vormarsch der Huthi-Kämpfer im Jemen wurde diese Besorgnis noch verstärkt (16, S. 388). Denn dem Iran wurde von Seiten Saudi-Arabiens vorgeworfen, die Huthi zu unterstützen. Bei Licht besehen, bestand diese „Unterstützung“ lediglich in raketentechnologischer Beratung. Raketen oder Raketenteile wurden –anders als von den Saudis und im Westen behauptet- nicht geliefert (11, S. 178; 21, S. 22; 22, S. 127).
Die islamischen Huthi, Anhänger der zaiditisch-schiitischen Glaubensrichtung, sind aus der Sicht des saudischen Königshauses und der wahhabitischen Rechtsgelehrten überdies „Ungläubige“ und „Ketzer“, die es zu bekämpfen gilt (21, S. 22). Bei dem Krieg zwischen Jemen und Saudi-Arabien geht es allerdings nicht um die Religion von Sunniten und Schiiten, sondern um die Vormachtstellung in der Region (22, S.124; 24, S.97).
Dem Westen kam der Krieg gegen den Jemen durchaus gelegen: Die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien seitens der USA, Frankreichs und Deutschlands wurden erheblich ausgeweitet (8, S. 10; 27, S. 110 f.).
Krieg im Jemen: Humanitäre Katastrophe
Der Krieg im Jemen ist eine humanitäre Katastrophe: Als solche bezeichneten Vertreter von UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation die Lage im Jemen bereits im Jahr 2017.
Die saudischen Luftangriffe richten sich – völkerrechtliche Gebote missachtend – bewusst gegen nichtmilitärische Ziele, darunter Schulen, Krankenhäuser, Märkte, Kraftwerke, Landwirtschaft, Lebensmittel- und Wasserversorgung.
Britische und US – Militärs liefern u.a. technische und logistische Unterstützung. US-Präsident Obama genehmigte sogar, dass US-Streitkräfte mit Saudi-Arabien einen Planungsstab bilden (11, S. 168 ff.; 27, S. 110 f).
Einem aktuellen Bericht der UN zufolge sind 16 Millionen Jemeniten/innen von Hunger bedroht. 50 000 sind in akuter Gefahr zu verhungern. 400 000 Kinder sind so stark unterernährt, dass sie alsbald sterben werden, es sei denn, ihnen wird sofort mit Spezialnahrung geholfen. Insgesamt leiden 2,3 Millionen Kinder unter 5 Jahren an akuter Unterernährung. Zugang zu sauberem Wasser fehlt Millionen Jemeniten/innen (SZ 1. 3. 2021). Cholera und Polio haben bereits viele tausend Menschenleben gefordert (11, S. 168). Die wenigsten Menschen können ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen und sterben unbemerkt in ihren Wohnungen. Krankenhäuser sind überlastet (26, S. 2). Die Zahl der Toten als Folge des Krieges und der humanitären Katastrophe wird auf 233 000 – 250 000 geschätzt. Corona verschärft, so UNICEF, die ohnehin katastrophale Situation für die geschwächte Bevölkerung nochmals dramatisch (27, S. 109; 26, S. 9). Fast 21 von etwa 30 Millionen Jemeniten/innen sind für ihr Überleben von humanitärer Hilfe abhängig. Die Hilfe ist unterfinanziert: im Jahr 2021 sind 3,85 Milliarden $ dafür erforderlich. Doch schon im Jahr zuvor war nur mehr knapp die Hälfte des benötigten Geldes zusammengekommen, weil einige der Golfstaaten ihre Beiträge erheblich reduziert hatten (SZ 1. 3. 2021).
Der neu gewählte amerikanische Präsident Joe Biden hat angekündigt, dass er die Beziehungen zu Saudi-Arabien einer Neubewertung unterziehen werde (SZ 2.1.2021): Das Königreich solle für Menschenrechtsverletzungen wie die Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi zur Rechenschaft gezogen werden (s. dazu weiter unten). Wegen der Hungersnot im Jemen erteilte Biden im Januar 2021 eine Ausnahmegenehmigung für humanitäre Lieferungen in das Land. Zeitgleich ordnete er an, alle Waffenlieferungen seitens der USA nach Saudi-Arabien vorerst einzustellen (SZ 29. 1. 2021). Auch andere Arten der Unterstützung des Krieges der Saudis gegen Jemen hat Biden mittlerweile beenden und die von der Regierung Trump zuletzt beschlossene Einstufung der Huthi als Terrorvereinigung rückgängig machen lassen (SZ 18. 2. 2021).
Menschenrechte, insbesondere Meinungs- und Pressefreiheit
Die enge Beziehung zwischen der wahhabitischen Geistlichkeit und dem Königshaus hat erhebliche Auswirkungen auf das öffentliche Leben in Saudi-Arabien: Die uneingeschränkte Geltung der Scharia, des islamischen Rechts, führt dazu, dass einschlägige Rechtsregelungen auf ihre Vereinbarkeit mit der Scharia geprüft werden, ehe sie durch königliche Verordnung in Kraft treten.
So verbietet das „Nationale Sicherheitsgesetz“ aus dem Jahr 1965 jede öffentliche Kritik am Islam, an der Regierung und an der – erweiterten – Königsfamilie. In dem 1964 erlassenen und 1982 überarbeiteten Pressegesetz werden die Medien verpflichtet, den wahhabitischen Islam zu verbreiten, Atheismus zu bekämpfen und die Traditionen Saudi-Arabiens zu bewahren (12, S.4).
Zensur ist folglich alltäglich in Saudi-Arabien. Jegliche Kritik am Königshaus, an der Regierung, derJustiz und an Religionsführern wird mit Strafverfahren beantwortet. Reiseverbote, Geldstrafen, Haftstrafen, Auspeitschungen, Todesurteile aufgrund zweifelhafter Geständnisse, Folter und andere Misshandlungen, Festnahmen ohne Anklage sind an der Tagesordnung. Das neuere, im Jahr 2017 verabschiedete Antiterrorgesetz enthält unbestimmte Formulierungen, die es ermöglichen, die Meinungsfreiheit und die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern massiv zu unterdrücken bzw. strafrechtlich zu sanktionieren (17, S. 410 f.).
Human Rights Watch erklärte in einem Bericht vom Mai 2018, dass innerhalb von 10 Jahren tausende Personen ohne Gerichtsverfahren inhaftiert worden seien und teilweise länger als 10 Jahre inhaftiert blieben. Seit Mohammed bin Salman de facto die Regierungsmacht innehat, hätten willkürliche Verhaftungen und Repressionen erheblich zugenommen (7, S. 400). Amnesty international zufolge wurden allein im Jahr 2015 mindestens 158 Menschen hingerichtet (5, S. 388).
Zwei Journalisten sollen hier zunächst vorgestellt werden: sie sind exemplarisch für die menschenrechtsverachtende Vorgehensweise der saudischen Regierung:
Der Journalist Raif Badawi hatte – zum wiederholten Mal – im Jahr 2010 zusammen mit seiner Frau, Ensaf Haidar, ein Forum, das „Saudische liberale Netzwerk“ gegründet, das ihn alsbald zu einem der bekanntesten Menschenrechtler in Saudi-Arabien werden ließ. Er forderte die Achtung von Menschen- und Frauenrechten, wandte sich gegen den übermächtigen Einfluss des Wahhabismus in Saudi-Arabien, kritisierte die Religionspolizei und die Benutzung der Religion zur Legitimation von Herrschaft. Den Herrschenden warf er u.a. vor, „die Massen, so gut es geht, in die absolute Verdummung zu treiben“. Er setzte sich außerdem für das Recht auf freie Meinungsäußerung und Religionsausübung ein. In einem Rechtsgutachten wurde er zum Ungläubigen erklärt, weil er Muslime, Christen, Juden und Nichtgläubige als gleichwertig bezeichnet hatte. Die saudische Regierung verhängte ein Ausreiseverbot und fror Badawis Konto ein. Er verlor seinen legalen Status und wurde zu einer Person ohne Rechte. Wegen Beleidigung des Islam verurteilte ihn das höchste Gericht schließlich zu 10 Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben. Zusätzlich verhängte es nochmals ein 10-jähriges Reiseverbot nach Verbüßung dieser Strafe. Die erste Folterstrafe – 50 Peitschenhiebe – wurde an Badawi öffentlich vor einer Moschee in seiner Heimatstadt Djidda vollzogen. Die Menschenmenge, die zusah, jubelte und schrie „allahuakbar“ – „Gott ist groß“. Seine Verletzungen waren so schwerwiegend und die internationale Empörung so massiv, dass eine Fortsetzung dieser Misshandlung zunächst ausblieb. (FR 20. 6. 2019; 24, S. 77).
Spektakulär war auch der Fall des Journalisten Jamal Kashoggi, der ebenso weltweit Empörung hervorrief. Kashoggi, saudi-arabischer Journalist, war zeitweilig Direktor der Tageszeitung Al-Watan und Medienberater des saudi-arabischen Prinzen Turki ibn Faisal, damals Chef des Geheimdienstes (23, S. 1f.) Zunächst war Kashoggi hinsichtlich der Machtübertragung auf MBS optimistisch: er begrüßte die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen, kritisierte aber bereits den Mangel an Partizipation und Pressefreiheit offen. Nach dem Wahlsieg Trumps kritisierte er diesen vorsichtig in einer US-Diskussionsrunde. Der Medienberater MBS‘ untersagte Kashoggi daraufhin weitere Äußerungen dieser Art und den Kontakt zu ausländischen Journalisten. Da ihm der publizistische Handlungsspielraum in Saudi-Arabien schließlich zu eng wurde, ging Kashoggi 2017 in die USA ins Exil.
In den USA setzte er seine Kritik an MBS als „Herrschaft eines einzelnen Mannes“ fort, verglich ihn in einer Kolumne in der „Washington Post“ mit Putin und forderte MBS öffentlich auf, den „grausamen Krieg“ im Jemen zu beenden, etc. Kashoggi galt zudem als Kritiker einer Annäherung Saudi-Arabiens an Israel zum Nachteil der Palästinenser (23, S. 2f.).
Am 2. 0ktober 2018 suchte Kashoggi das saudi-arabische Konsulat in Istanbul auf, um Dokumente zu seiner Person abzuholen. Seitdem ist er verschwunden. Kurze Zeit später berichteten saudische Staatsmedien, dass Kashoggi im Istanbuler Konsulat getötet worden sei. Gleichzeitig wurde die Verhaftung von 18 verdächtigen Personen bekanntgegeben, von denen mehrere aus dem engeren Umfeld MBS‘ stammten. Zwei hochrangige Berater des Kronprinzen wurden außerdem entlassen (14, S. 3; 23, S. 2, 4).
Der Verbleib der Leiche Kashoggis ist bis heute unklar- es kursieren darüber verschiedene – gleichermaßen brutale – Versionen (23, S. 3 f.).
Ein Jahr nach dem Mord an Kashoggi erklärte Mohammed bin Salman, er übernehme die volle Verantwortung für dieses „abscheuliche Verbrechen“, da es von Mitarbeitern der saudischen Regierung verübt worden sei. Er persönlich sei aber nicht involviert gewesen.
Einige Personen wurden zunächst zum Tode verurteilt, die Todesstrafe später in Haftstrafen umgewandelt. Andere erhielten von vornherein Haftstrafen. Zwei ranghohe Beamte wurden von MBS entlastet. Im Dezember 2019 waren diese Urteile noch nicht rechtskräftig (23, S. 5).
Am 26. 2. 2021 hat die CIA nunmehr einen abschließenden Bericht zur Ermordung von Jamal Kashoggi veröffentlicht. Auf der Grundlage detaillierter Recherchen kommen die Autoren zum Ergebnis, dass Mohammed bin Salman die Ermordung Kashoggis gebilligt und in Auftrag gegeben hat (SZ 27. 2. 2021; taz 1. 3. 2021; FR 3. 3. 2021).
In der diesbezüglichen Pressekonferenz im Weißen Haus wurde gefragt:„Warum gibt es keine direkten Sanktionen gegen den Kronprinzen?“ Die Antwort des Außenministers Antony Blinken lautete: “Die Beziehungen zu Saudi-Arabien sind größer als ein Individuum“. Ausdrücklich hatte Biden bei einer Vorwahldebatte angekündigt, dass die Saudis einen Preis für die Tötung Kashoggis bezahlen müssten. „Wir werden sie tatsächlich zu dem Paria machen, der sie sind“ – so seine Worte damals. Nun aber belässt es die Regierung der USA bei Einreisesperren gegen 76 in die Tat involvierte saudische 0ffizielle. Keine Strafen aber verhängte sie gegen den verantwortlichen Kronprinzen MBS. Vermutlich will sie weder das Öl noch den Verbündeten gegen den Iran verlieren.
Biden wurde für diese Entscheidung von vielen Seiten hart kritisiert. Die Untätigkeit der Regierung sende eine fatale Botschaft um den Globus, „dass nämlich die an der Spitze jeglichen Konsequenzen für ihr Handeln entkommen können“, so urteilte z. B. ein demokratischer Abgeordneter. Biden wurde aber auch gelobt – von Donald Trump! (FR 3. 3. 2021; 29)
Ein Kolumnist der New York Times drängt ebenfalls darauf, dass die Regierung Biden gegen Mohammad bin Salman vorgeht. Er sei gerade erst 35 Jahre alt, werde als Nachfolger seines Vaters also noch sehr lange an der Macht bleiben, rücksichtslos agieren, Chaos in der Golfregion anrichten und über Jahre einen Bruch saudi-arabischer Beziehungen hervorrufen. Saudi-Arabien sei deshalb mit einem anderen Kronprinzen, der keine Journalisten zerstückelt, besser aufgestellt (29).
Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ hat in Deutschland Strafanzeige gegen Mohammed bin Salman beim Generalbundesanwalt gestellt. Er sei verantwortlich für die Ermordung des Journalisten Kashoggi und für die Inhaftierung von mehr als 30 saudischen Medienschaffenden.
Schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß dem Völkerstrafrecht seien gegen diese Journalisten begangen worden. Die Taten seinen dazu bestimmt, eine staatliche Politik durchzusetzen, die jegliche kritische Stimmen zum Schweigen bringen soll. Die deutsche Justiz, so der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, könne jetzt zu einem weltweiten Vorreiter werden, indem sie Strafermittlungen zu diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Saudi-Arabien einleitet (FR 3. 3. 2021).
Die weltweite Berichterstattung über den Mord an Kashoggi hat die Kritik an Saudi-Arabien verstärkt: Menschenrechtsverletzungen, Hinrichtungen, die Vielzahl politischer Gefangener und die Zensur der Medien sind in den Focus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Auch in den USA nimmt die Kritik an der Zusammenarbeit mit den Saudis zu (27, S. 181).
Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, die ebenfalls verfolgt und verhaftet wurden, aber weniger öffentliches Aufsehen erregten, seien hier ebenfalls exemplarisch vorgestellt:
Zuhairi Kutbi, Schriftsteller, hatte sich für die Einführung einer konstitutionellen Monarchie ausgesprochen. Dies trug ihm im Jahr 2015 vier Jahre Haft auf Bewährung, 15 Jahre Schreibverbot und ein Ausreiseverbot für die Dauer von 5 Jahren ein. Dazu kam eine Geldstrafe in Höhe von 26 600 US $.
Abdelasis asch-Schuballi, Gründungsmitglied der saudi-arabischen „Vereinigung für bürgerliche und politische Rechte“ wurde im Jahr 2016 zu 8 Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Kommunikation mit ausländischen Organisationen und Übergabe von Informationen an diese.
Im gleichen Jahr trat Walid Abu al-Khair, einer der bekanntesten Menschenrechtsanwälte in Saudi-Arabien, in den Hungerstreik. Er war wegen Aufhetzung der Öffentlichkeit zu 15 Jahren Haft verurteilt worden und versuchte auf diesem Wege,Änderungen seiner Haftbedingungen zu erzwingen: Als ihm u.a. der Zugang zu einem Krankenhaus und der tägliche Besuch der Krankenhausbibliothek zugestanden wurde, beendete er den Streik.
Der Journalist Alaa Brindschiwurde im Jahr 2016 wegen Beleidigung des Königshauses und Aufwiegelung der Öffentlichkeit zu 5 Jahren Haft, einem Ausreiseverbot von 8 Jahren und zu einer Geldstrafe verurteilt (5, S.388). Mohammed al-Badschadi, Mitbegründer der „Vereinigung für bürgerliche und politische Rechte“ kritisierte das Justizsystem und erhielt dafür 10 Jahre Haft (16, S. 389).
In der schiitischen Ostprovinz Saudi-Arabiens wurden der angesehene schiitische Geistliche Nimr a- Nimr zusammen mit weiteren 46 verurteilten Personen hingerichtet. Er hatte umfassende Reformen gefordert und das Königshaus hart kritisiert. Und er hatte sich stets für gewaltlosen Widerstand eingesetzt. Es gab in der Ostprovinz massive Proteste gegen diese Hinrichtungen, was dazu führte, dass 14 weitere Personen wegen der Teilnahme an diesen Protesten zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden (16, S.388; 5, S. 388; 24, S. 94).
Diese Auflistung ließe sich beliebig fortsetzen, ist sie doch nur ein Ausschnitt aus den Menschenrechtsverletzungen und Repressionen, die in Saudi-Arabien allgegenwärtig sind.
Saudi-Arabien belegt auf der Rangliste der Pressefreiheit 2021 von „Reporter ohne Grenzen“ demgemäß Platz 170 von 180 Plätzen (25).
Erst kürzlich, im Oktober 2020, waren von der Generalversammlung der UN 15 der insgesamt 47 Sitze im UN-Menschenrechtsrat neu zu besetzen. Saudi-Arabien kandidierte vergeblich für einen Sitz: Es erhielt als einer von 5 Kandidaten der Ländergruppe Asien-Pazifik nicht die für diese Wahl zwingend erforderliche absolute Mehrheit von 97 Stimmen (taz, 15. 10. 2020).
Anfang März 2021 haben sich mehr als 161 europäische Parlamentarierinnen zusammengetan und die Regierung Saudi-Arabiens aufgefordert, inhaftierte Frauenaktivistinnen zu entlassen und für die Gefangenschaft zu entschädigen. Darüber hinaus müsse das Vormundschaftssystem vollständig abgeschafft werden: es gewähre männlichen Angehörigen –Vater, Ehemann, Bruder oder Sohn- immer noch weitgehende Bestimmungsmacht über Frauen. So könnten sie nicht frei über Ausbildung, Beschäftigung, Gesundheit oder Wahl des Ehepartners entscheiden. Auch könnten sie die saudische Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder weitergeben. Kinder von saudischen Frauen, die mit einem Nicht-Saudi verheiratet sind, erhielten nicht die saudische Staatsbürgerschaft. Erst wenn sie volljährig werden, könnten sie sich darum bewerben.
Diese Stellungnahme wurde von einer in London ansässigen Menschenrechtsorganisation in Zusammenarbeit mit Menschenrechtlerinnen aus Saudi-Arabien initiiert. Die Schwester der oben erwähnten Journalistin Loujain al-Hathloul, Lina al-Hathloul, war mit daran beteiligt. Sie berichtete über die im Jahr 2005 von der saudischen Regierung eingerichtete Menschenrechtskommission: diese sei nichts als ein Werkzeug der Regierung. Ihre Repräsentanten betrieben Lobbyarbeit in europäischen Parlamenten, um das Image Saudi-Arabiens aufzupolieren. Mitglieder der Kommission hätten ihre Schwester im Gefängnis zwar aufgesucht, auf deren Beschwerden über erlittene Folter aber nicht reagiert (taz 10. 3. 2021).
Stand: 10. 3. 2021
Abschließend sollen einige saudi-arabische Schriftsteller/innen vorgestellt werden. Es sind aus einer größeren Gruppe nur diejenigen, deren Romane ins Deutsche übersetzt worden sind.
Turki al-Hamad * 1952 in Al-Karak, Jordanien
Adama, München 2004
Turki, Autor mehrerer Romane, ist in Saudi-Arabien sehr bekannt. Adama, im Jahr 1998 veröffentlicht, wurde nach seiner Veröffentlichung sofort verboten, nicht nur in Saudi-Arabien, sondern auch in Bahrain, Kuwait und Jordanien. Dies ergibt sich aus der Thematik von „Adama“: wird im ihm doch ein junger Mann vorgestellt, der Weltliteratur und westliche Philosophie, Marx und Che Guevara liest. Seine politischen Ansichten stellt er in der Schule offen zur Diskussion. Er verliebt sich in ein Mädchen, das aus einer streng religiösen Familie stammt…
Gegen Turki wurden vier Fatwas (islamische Rechtsgutachten) ausgesprochen, in denen sein Tod gefordert wird. Von Al-Qaida wurde er als Apostat, als vom Glauben Abgefallener, beschimpft. Er bezeichnet die Fatwas „eher als Unsinn, denn als sonst etwas“… und lebt- all diesen Gefährdungen zum Trotz – weiterhin in Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens.
Abdalrachman Munif, geb.1933 in Amman/Jordanien – gest. 2004 in Damaskus/Syrien
Östlich des Mittelmeeres, 1975
Geschichte einer Stadt – Amman in den vierziger Jahren,1994
Am Rande der Wüste, 2005
Ein Paradies aus Nichts, 2015
Romanzyklus 1984 – 1989:
Salzstädte, München 2003
Zeit der Saat, München 2008
Das Spiel von Licht und Schatten, München 2009.
Weitere Romane Munifs sind nicht übersetzt.
Munif studierte Jura und Ökonomie. Er promovierte im Fachgebiet Erdölwirtschaft. Er arbeitete für eine Ölfirma in Syrien, war Redakteur einer irakischen Fachzeitschrift und war als Wirtschaftsexperte für die OPEC (Organisation erdölexportierender Länder) tätig.
Nach Fertigstellung des dritten Teils seines Romanzyklus wurde ihm die saudi-arabische Staatsbürgerschaft entzogen und er ging nach Damaskus ins Exil.
Sein Romanzyklus beschäftigt sich u.a. mit der Erschließung der saudi-arabischen Erdölvorkommen durch ausländische Mächte und mit dem damit einhergehenden Wandel der Beduinengesellschaft: Sitten und Bräuche werden fallen gelassen, Traditionen verlieren ihre Geltung. Der Autor kritisiert unmissverständlich die urplötzlich zu Reichtum gelangende Gesellschaft, in der nunmehr Korruption, Missgunst und Gewalt um sich greifen.
Raja Alem,
Das Halsband der Tauben, Zürich 2014
Sarab, Zürich 2018
1970 in Mekka geboren, studierte Raja Alem in Djidda / Saudi-Arabien Englische Literatur. Sie hat zahlreiche Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten publiziert.
„Das Halsband der Tauben“ stellt Mekka vor als eine Stadt der Gegensätze:
reich und arm, sündig und rein, aufrichtig und bestechlich – eine Stadt zwischen Geschichte und Gegenwart.
Anmerkungen:
1) Wikipedia, Geschichte Saudi-Arabiens, https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Saudi-Arabiens, abgerufen am 7. 12. 2020, 19.14h
2) Ulrike Freitag, Nushin Atmaca, Innenpolitische und gesellschaftliche Herausforderungen in Saudi-Arabien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2014, https://www.bpb.de/apuz/194431/innenpolitische-un…, abgerufen am 7. 12. 2020, 19:29h
3) Nora Derbal, Zwischen Reformversprechen und Status quo: Frauen in Saudi-Arabien, in: s. Anm. 2, 19:32 h
4) Guido Steinberg, Saudi-Arabien als Partner deutscher Politik, in: s. Anm. 2, 19:24 h
5) Saudi-Arabien, in: Fischer Weltalmanach 2017, S. 387 ff.
6) Saudi-Arabien, in: Fischer Weltalmanach 2018, S. 391 ff.
7) Saudi-Arabien, in: Fischer Weltalmanach 2029, S. 398 ff.
8) Ibrahim Warde, Saudische Zustände. Der Ölpreis im freien Fall, Stellvertreterkrieg im Jemen und Zwist im Königshaus, in: Le monde diplomatique Dezember 2015, S. 9 f.
9) Wikipedia, Menschenrechte in Saudi-Arabien, abgerufen am 7. 12. 2020, 19:15. Stand 17. 7. 2020
10) amnesty international, Saudi-Arabien: Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul ist endlich wieder in Freiheit, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/saudi-arabien, abgerufen am 8. 3. 2021, 19:45 h
11) Michael Lüders, Armageddon im Orient. Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt, 2. aktualisierte Auflage, München 2019
12) Henner Fürtig, Historisch gewachsene Symbiose: Das Haus Saud und die Wahhabiyya, about:reader?url=https://www.bpb.de/apuz.de/apuz/194429/…, abgerufen am 24. 1. 2021 17;27h*
13) Michael T. Klare, Das Öl der Saudis reicht nicht, in: Edition Le monde diplomatique, Arabische Welt, No. 11, 2012, S. 102 f.
14) Wikipedia: Mohammed bin Salman, abgerufen am 27. 1. 2021, 17:36 h
15) Saudi-Arabien, in: Fischer Weltalmanach 2015, S. 387 f.
16) Saudi-Arabien, in: Fischer Weltalmanach 2016, S. 387 f.
17) Saudi-Arabien, in: amnesty international report 2017/2018. Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, Frankfurt 2018, S. 407 f.
18) Stephan Roll, Ein Staatsfonds für den Prinzen. Wirtschaftsreformen und Herrschaftssicherung in Saudi-Arabien, SWP Studie 13, Berlin 2019
19) Wikipedia: Neom, https:de.wikipedia.org/wiki/Neom, abgerufen am 12. 3. 2021, 12.03h
20) Guido Steinberg, Muhammad Bin Salman Al Saud an der Macht. Der Kronprinz und die saudi-arabische Außenpolitik seit 2015, SWP-Aktuell Nr. 71, Dezember 2018
21) Wikipedia: Militärintervention im Jemen seit 2015, https://de.wikipedia.org/wiki/Militärintervention_im_Jemen, abgerufen am 18. 2. 2021, 17:37 h
22) Werner Ruf, Islamischer Staat & Co., 2. Auflage 2017
23) Wikipedia, Jamal Kashoggi, https://de.wikipedia.org/wiki/Jamal_Kashoggi, abgerufen am 24. 2. 2021, 18:52h
24) Sebastian Sons, Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien – Ein problematischer Verbündeter, Berlin 2016
25) Reporter ohne Grenzen, Rangliste der Pressefreiheit 2021
26) Jemens skrupellose Nachbarn, in: Le monde diplomatique, Januar 2021, S. 9
27) Ulrich Tilgner, Krieg im Orient. Das Scheitern des Westens, Berlin 2020
28) Akram Belkaid, Neom, Masdar, Saadiyat. Fragwürdige urbane Utopien auf der arabischen Halbinsel, in: Le monde diplomatique, März 2021, S.19
29) Nicholas Kristof, President Biden Lets a Saudi Murderer Walk, in: New York Times, 28. 2. 2021, S. 7
30) Walter M. Weiss, Die arabischen Staaten. Geschichte. Politik. Religion. Gesellschaft. Wirtschaft, Heidelberg 2007
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