Presse und Meinungsfreiheit in der Türkei garantieren! – Ein Memorandum der GfbV
Hatte es in der Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan anfangs noch vielversprechende Reformen und eine Annäherung an die Europäische Union gegeben, wurden diese Schritte später wieder zurückgenommen.
In diesem Memorandum wollen wir auf die Entwicklung der Medien (Teil 1) und die Presse- und Meinungsfreiheit (Teil 2) insbesondere in der Zeit nach dem Putschversuch im Juli 2016 eingehen. Dafür sind einige politische Entwicklungen und Ereignisse in den Vorjahren wichtig, die hier kurz skizziert werden.
2013 stellte einen Wendepunkt in der Türkei dar. Die Stadtregierung wollte die Bäume im Istanbuler Gezi-Park abholzen und dort ein Einkaufszentrum errichten. Hinter dem Projekt stand Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident. Am 28. Mai stellten sich Umweltschützer vor die anrückenden Bulldozer. Die Polizei antwortete mit dem Einsatz von Schlagstöcken, Tränengas und Gummigeschossen. Viele Prominente und Politiker sowie Organisationen, darunter viele kurdische und prokurdische sowie linke Gruppen, solidarisierten sich mit den Umweltschützern. Was anfänglich ein gewöhnlicher Bürgerprotest war, entwickelte sich zu landesweiten Protesten gegen die autoritäre Politik der Regierung von Erdogan.
Zwischen dem 17. und 25. Dezember 2013 wurden bei Razzien zudem 35 Geschäftsmänner aus dem Umkreis von Erdogan festgenommen, unter ihnen auch die Söhne von drei Ministern. Damit wurde der größte Korruptionsskandal des Landes aufgedeckt. Erdogan nannte die Razzien einen „Putschversuch“. Alle Betroffenen wurden später entlassen. Alle beteiligten Ermittler wurden von dem Fall abgezogen. Zudem wurden viele von ihnen später entlassen und selbst festgenommen.
Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 wurde die AKP für ihr zunehmend autoritäres Vorgehen sowie den Druck auf die Presse- und Meinungsfreiheit „bestraft“. Sie verlor viele Stimmen und konnte die Regierung nicht mehr allein stellen. Sämtliche Koalitionsverhandlungen scheiterten. Am 1. November 2015 mussten die Wahlen wiederholt werden.
Bis dahin sollen im Südosten des Landes 600 Polizisten und Soldaten umgekommen sein. Denn im Sommer 2015 hatten Regierungskräfte mehr als 30 Städte in den mehrheitlich von Angehörigen der kurdischen Volksgruppe bewohnten Gebieten angegriffen und etwa 500.000 Menschen vertrieben.[1] , Schon Ende Juli 2015 hatte Erdogan den „Friedensprozess mit den Kurden für gescheitert“ erklärt.[2] Zuvor hatte er gesagt, man solle ihm 400 Abgeordnete (die Mehrheit im Parlament) geben und alles werde friedlich gelöst. „Wenn ich gehe, kommt der Terror“, lautete damals die Botschaft des mächtigen Mannes in Ankara.
1. Entwicklung der Medien
Die Entwicklung in der Medienlandschaft in der Türkei kann anhand von Repressalien nachvollzogen werden, die sich in vier Kategorien einordnen lassen:
– Zwangsverwaltung und Schließung von Medien
– Hexenjagd auf Medienschaffende
– Beschlagnahme von Medienunternehmen und Vermögen
– Vernichtung von Archiven und Bücherverbrennung
Zwangsverwaltung und Schließung
Am 10. Oktober 2015 wurde der Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung Today´s Zaman, Bülent Keneş, festgenommen, weil er in einer Twittermeldung Erdoğan kritisiert hatte. Fünf Tage später wurde der Journalist freigelassen, nachdem seine Anwälte Beschwerde eingelegt hatten. Die Zeitung hatte während der Gezi-Proteste die AKP-Regierung heftig kritisiert und damit deren Zorn auf sich gezogen.
Ähnlich ging es auch Redakteurinnen und Redakteuren der „Koza Ipek Mediengruppe“. In einigen ihrer Medien war die Regierung für das harte Vorgehen der Polizei gegen Demonstrierende kritisiert worden. Der damalige Ministerpräsident hatte daraufhin den Chef des Konzerns, Akın İpek, gebeten, diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu kündigen, und stattdessen „regierungskonforme Journalistinnen und Journalisten“ einzustellen. Ipek hatte dies abgelehnt. Er und sein Konzern kamen daraufhin auf eine „schwarze Liste.“
Nur drei Tage vor den Neuwahlen am 1. November 2015 wurde die „Koza Ipek Mediengruppe“ unter Zwangsverwaltung gestellt. Die zum Konzern gehörenden Blätter „Kanaltürk,“ „Bugün TV“ und die Zeitungen „Bugün“ und „Millet“ wurden von Erdoğan-nahen Geschäftsleuten übernommen.
Auch die „Kaynak Holding“ mit ihren Verlagen bekam den Zorn aus Ankara zu spüren. Der durch ihre Nähe zur Gülen-Bewegung bekannte Konzern wurde am 17. November 2015 ebenfalls unter Zwangsverwaltung gestellt. Die Verlage von Kaynak Holding druckten die Magazine „Sızıntı“ mit einer Auflage von 700.000 Stück sowie andere Magazine wie „Yağmur,“ „Yeni Ümit“ und die „Fountain“.
Am 4. März 2016 tauchten Gerüchte auf, dass die Zeitung „Zaman“ unter Zwangsverwaltung gestellt werden soll. Diese Zeitung sollte es am schlimmsten treffen. Neben der Zwangsverwaltung sollten auch viele Journalisten des Blattes festgenommen werden. In den Abendstunden umzingelte die Polizei die Zentrale der Zeitung in Istanbul. Wasserwerfer wurden in Stellung gebracht. Vor dem Gebäude hatten sich Tausende Menschen versammelt, um eine Übernahme zu verhindern. Die Polizei setzte Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer ein und die Zwangsverwaltung übernahm das Blatt. Hatte die Zeitung am Tag der Übernahme noch eine Auflage von 650.000, lag diese zwei Tage später bei 2.000. Der Eigentümer des Blattes, die „Feza Gazetecilik AŞ,“ wurde am 1. September 2016 per Dekret beschlagnahmt und dem staatlichen Einlagensicherungsfonds TMSF überschrieben. Genau so erging es der zur Feza Gazetecilik AŞ gehörenden Nachrichtenagentur „Cihan Haber Ajansı“ CHA.
Am 27. Juli 2016 wurden während des Ausnahmezustands mit dem Dekret 674 insgesamt 16 TV-Kanäle, 3 Nachrichtenagenturen, 23 Radio-Stationen, 45 Zeitungen, 15 Magazine und 29 Verlage und Vertriebe geschlossen. Unter ihnen befanden sich Barış TV, Bugün TV, Can Erzincan TV, Dünya TV, Hira TV, Irmak TV, Kanal 124, Kanaltürk, MC TV, IMC TV, Mehtap TV, Merkür TV, Samanyolu Haber, Samanyolu TV, SRT TV, Tuna Shopping TV, Yumurcak TV, Taraf Gazetesi, Zaman Gazetesi, Bugün Gazetesi, Aksiyon Dergisi, Sızıntı Dergisi, Nokta Dergisi, Cihan Haber Ajansı, Muhabir Haber Ajansı und die SEM Haber Ajansı.
Die Doğan Yayın Holding konnte dem Druck der Regierung schließlich nicht mehr standhalten. Die zu ihr gehörenden Medien (Hürriyet, Poste, Kanal D, CNN Türk und die Nachrichtenagentur Doğan Haber Ajansi) gingen auf die regierungsnahe Demirören-Gruppe über.
Hexenjagd auf Medienschaffende
Nachdem die Mediengruppen Koza Ipek und Zaman unter Zwangsverwaltung gestellt worden waren[3], wurden innerhalb kürzester Zeit Hunderte Redakteurinnen und Redakteure entlassen und durch regierungsnahe Journalistinnen und Journalisten der „Sabah-ATV“ sowie „Yeni Şafak Gruppe“ ersetzt. Viele entlassene Medienschaffende erhielten nicht einmal Abfindungen. Einige der entlassenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gründeten Zeitungen wie die „Özgür Düşünce,“ „Yeni Hayat“, „Yarına Bakış“ oder Meydan. Doch nur wenige Tage nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden auch diese Zeitungen verboten. Viele Gründungsmitglieder wurden festgenommen. Regierungskritiker galten als Mitglied der Fethullah´schen Terrororganisation „FETÖ“, regierungskritische Medienschaffende als Angehörige der FETÖ-Medien.
Mehr als 100 Journalistinnen und Journalisten, unter ihnen auch bekannte Gesichter wie Ahmet Altan, Nazlı Ilıcak, Şahin Alpay und Mustafa Ünal, wurden festgenommen. Derzeit sind in den türkischen Gefängnissen bis zu 200 Journalistinnen und Journalisten inhaftiert. Diejenigen, die per Haftbefehl gesucht werden und geflohen sind, hat es auch schwer getroffen. Denn an ihrer Stelle wurden Angehörige festgesetzt. So wurden etwa die Ehefrau von Bülent Korucu und die Tochter von İbrahim Karayeğen festgenommen.
Beschlagnahme von Medienunternehmen und Vermögen
Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 war nach Worten von Präsident Recep Tayyip Erdoğan „ein Geschenk Gottes“. In den ersten zwei Monaten danach wurden praktisch alle regierungskritischen Medien verboten, die zum größten Teil der Bewegung rund um den im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen nahestanden. Aber auch linke oder kurdische Medien wurden verboten. Das Verbot betraf insgesamt 179 Medien (53 Zeitungen, 34 TV-Kanäle, 37 Radio-Stationen, 20 Magazine, 6 Nachrichtenagenturen und 29 Verlage). 620 Journalistinnen und Journalisten wurde die Akkreditierung entzogen, manchen der Reisepass für ungültig erklärt. Das Vermögen der Medienhäuser ging auf den Staat über. So wurden nach der endgültigen Schließung der Nachrichtenagentur Cihan Haber Ajansi deren Ausstattung, technische Gerätschaften und Übertragungswagen an regierungsnahe Medien zu niedrigsten Preisen verkauft.
Auch das Vermögen von Medienschaffenden geriet nach dem Putschversuch in Gefahr. Am 1. Dezember 2016 ordnete ein Gericht in Istanbul die Beschlagnahme der Vermögen von 57 Journalistinnen und Journalisten an. Erst nach Beschwerden inhaftierter Medienschaffender wurde diese Anordnung in eine Art „Veräußerungsverbot“ umgewandelt: Das Vermögen der Betroffenen darf nicht auf Dritte übergehen. Doch alle, die per Haftbefehl gesucht werden und geflüchtet sind, sind davon ausgenommen. Ihr Vermögen gilt als beschlagnahmt.
Vernichtung von Archiven und Büchern
Archive sind für Medien ein sehr wichtiges Gut. Doch alle elektronischen Archive der Medienunternehmen wurden nach ihrer Übernahme durch Zwangsverwaltungen gelöscht oder unter Verschluss genommen und sind nicht mehr zugänglich. So haben die Zwangsverwalter als erste Handlung die Internetseiten der Zeitungen „Bugün“ und „Zaman“ gesperrt. Nachdem sie wieder online waren, wurde klar, dass die Archive gelöscht waren. Ähnlich war es auch bei der Nachrichtenagentur Cihan Haber Ajansı, Irmak TV und Cihan Radyo. Das gesamte Archiv der Nachrichtenagentur Cihan Haber Ajansi wurde vernichtet.
Die Buchhandelskette „NT“ mit ihren rund 100 Filialen, die zur zwangsverwalteten Kaynak Holding gehörte, und viele Verlagshäuser mussten auf Anordnung große Mengen von Büchern vernichten, darunter auch Schulbücher. Denn viele von ihnen sollen angeblich sog. „FETÖ-Propaganda“ enthalten haben. So wurden 892.000 Bücher vernichtet, weil der US-Bundesstaat Pennsylvania darin vorkommt. Dort lebt auch der Prediger Fethullah Gülen, den die türkische Regierung und Präsident Erdoğan als Drahtzieher hinter dem Putschversuch von 2016 sieht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Putschversuch von 2016 der türkischen Regierung die Möglichkeit gab, die Medien vollständig unter Kontrolle zu bringen. 179 kurdische und der Gülen-Bewegung nahe Medien wurden während des Ausnahmezustandes per Dekret geschlossen. Diese Maßnahmen dienten dazu, der Bevölkerung jeden Zugang zu einer unabhängigen kritischen Berichterstattung zu nehmen. Vor allem wird dadurch verhindert, dass Korruptionsfälle und Vetternwirtschaft innerhalb der Regierung sowie Menschenrechtsverstöße öffentlich werden. Stattdessen muss davon ausgegangen werden, dass in den regierungsnahen Medien oft frei erfundene Nachrichten publiziert werden oder Hetze betrieben wird. Wenn Regierungen auch die Justiz kontrollieren, dann bleiben nur noch Medien, die sie zur Rechenschaft ziehen könnten. In der Türkei ist dies insbesondere nach dem Putschversuch praktisch unmöglich geworden.
2. Meinungsfreiheit
Internationale Regelwerke
Die Meinungsfreiheit ist in der UN-Menschenrechtscharta fest verankert. Die Türkei hat am 6. April 1949 ihre Unterschrift daruntergesetzt. Am 15. August 2000 hat das Land zudem den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ICCPR (Zivilpakt) unterzeichnet. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gilt in der Türkei. Die türkische Regierung ist deswegen verpflichtet, europäisches und internationales Recht zu respektieren und die Meinungsfreiheit zu schützen. Wichtig dafür sind insbesondere:
Artikel 10 Abs. 1 der EMRK
Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, dass die Staaten Rundfunk, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.
Artikel 19 des ICCPR
- Jedermann hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit.
- Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.
- Die Ausübung der in Absatz 2 vorgesehenen Rechte ist mit besonderen Pflichten und einer besonderen Verantwortung verbunden. Sie kann daher bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die erforderlich sind
Am 21. Juli 2016 hat die türkische Regierung dem Europarat mitgeteilt, einige Verpflichtungen außer Kraft zu setzen. Zur selben Zeit benachrichtigte Ankara auch die Vereinten Nationen, die Rechte in Artikel 2 und 3 sowie die Artikel 9, 10, 12, 13, 14, 17, 19, 20, 21, 22, 25 und 26 des ICCPR auszusetzen.
Zwar können bestimmte Rechte im Zivilpakt und der Europäischen Menschenrechtskonvention außer Kraft gesetzt werden, aber nicht alle. Manche Rechte dürfen unter gar keinen Umständen ausgesetzt werden. Mit der Außerkraftsetzung von Rechten darf niemand diskriminiert werden. Ziel muss bei solchen Maßnahmen sein, dass die Menschenrechte gewahrt bleiben.
Die Meinungsfreiheit darf auch in Ausnahmezuständen nicht eingeschränkt werden. Andere Rechte im Zivilpakt dürfen nur dann und auch nur vorübergehend eingeschränkt werden, so eine Entscheidung des Menschenrechtsausschusses der UN.
Die Meinungsfreiheit in der türkischen Verfassung
Auch in der türkischen Verfassung ist die Meinungsfreiheit geschützt. Dort heißt es in
Artikel 25
Jedermann genießt Meinungs- und Überzeugungsfreiheit.
Niemand darf, aus welchem Grund und zu welchem Zweck auch immer, zur Äußerung von Meinungen und Überzeugungen gezwungen werden; niemand darf wegen seiner Meinungen und Überzeugungen gerügt oder einem Schuldvorwurf ausgesetzt werden.
Artikel 26
Jedermann hat das Recht, seine Meinungen und Überzeugungen in Wort, Schrift, Bild oder auf anderem Wege allein oder gemeinschaftlich zu äußern und zu verbreiten. Diese Freiheit umfasst auch die Freiheit des Empfangs oder der Abgabe von Nachrichten und Ideen ohne Eingriff öffentlicher Behörden. Der Vorschrift dieses Absatzes steht nicht entgegen, Veröffentlichungen durch Radio, Fernsehen, Kino oder auf ähnlichem Wege einem Genehmigungssystem zu unterwerfen.
Artikel 28
Die Presse ist frei, Zensur findet nicht statt. Die Gründung einer Druckerei darf nicht an die Bedingung einer Genehmigung oder der Leistung einer finanziellen Sicherheit gebunden werden.
Artikel 30
Die dem Gesetz gemäß als Pressebetrieb gegründeten Druckereien und ihre Nebenanlagen dürfen nicht mit der Begründung, sie seien Tatwerkzeug, beschlagnahmt und eingezogen oder aus dem Verkehr gezogen werden.
Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch türkische Gesetze
Die Türkei ist das Land, dass wegen der Einschränkung der Meinungsfreiheit vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH) am häufigsten verurteilt wurde1. Nach Informationen des EuGH wurde in 40 Fällen gegen Artikel 10 des Zivilpaktes (ICCPR) verstoßen und die Meinungsfreiheit somit verletzt.
Bei den Fällen von Verstößen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit, die bisher vom EuGH untersucht wurden, wird deutlich, dass das türkische Strafrecht (Türk Ceza Kanunu TCK) sowie die Antiterrorgesetze (Terörle Mücadele Kanunu TMK) dafür verantwortlich sind. Vor allem diese Gesetze werden dafür genutzt, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. Sie stehen damit im Widerspruch zur türkischen Verfassung, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Zivilpakt.
Das Antiterrorgesetz Nr. 3713
Das Antiterrorgesetz Nr. 3713 verbietet die „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ und „Terrorpropanda“. Im Falle einer Verurteilung droht eine Haftstrafe von ein bis fünf Jahren. Wer aber diese Straftatbestände mit Hilfe der Medien erfüllt, dem drohen zusätzlich noch einmal halb soviel Jahre Haft als zusätzliche Strafe. Medienschaffende können bei einer Verurteilung zu fünf Jahren Gefängnis nochmals zusätzlich mit 2,5 Jahren Haft bestraft werden.
Zudem ist nicht klar definiert, was mit „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ oder „Terrorpropaganda“ gemeint ist. Das Gesetz lässt offen, welche Taten als terroristisch gelten.
Vorschriften aus dem türkischen Strafgesetzbuch
In Paragraph 301 des türkischen Strafgesetzbuches TCK wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren bestraft, wer die türkische Nation, den Staat und die Institutionen und Organe des Staates beleidigt.
Aufgrund dieses Gesetzes erhielten Hunderte Intellektuelle Gefängnisstrafen. Auch der ermordete Journalist Hrant Dink wurde wegen „Beleidigung des Türkentums“ verurteilt und 2007 von radikal-nationalistischen Türken ermordet.
Der UN-Menschenrechtsrat hat bei seinem regelmäßigen Prüfverfahren (Universal Periodic Review – UPR) der Türkei empfohlen, diesen Paragraphen zu ändern oder abzuschaffen. Bislang ist die Türkei dem nicht nachgekommen.
Laut Paragraph 216 des TCK wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft, wer das Volk zu Hass und Feindschaft verleitet. Auch dieser Paragraph dient als Grundlage zur Beschneidung der Meinungsfreiheit. So wurde der Pianist Fazıl Say 2011 zu zehn Monaten Haft verurteilt.
Die Straftatbestände „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ und „Terrorpropanda“ definiert das TCK nur vage. Deshalb sind sie ein Hindernis für die Meinungsfreiheit. Viele Journalist*innen und Wissenschaftler*innen sitzen wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation (§314 TCK) und wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und in deren Namen Straftaten begehen“ (§ 220 TCK Abs. 6) im Gefängnis.
Schon 2004 wurde Paragraph 299 ins TCK aufgenommen. Er droht allen, die den Präsidenten beleidigen, eine Haftstrafe von ein bis vier Jahren an. Wer diesen Straftatbestand mit Hilfe der Medien erfüllt, kann sogar zu einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Mit diesem Paragraphen wird jede Kritik an Präsident Erdoğan zu einer Straftat. Er steht im Widerspruch zur türkischen Verfassung und zum Zivilpakt und schränkt die Meinungsfreiheit erheblich ein. So mussten sich Künstler*innen, Medienschaffende, Karikaturist*innen, Studierende, Gewerkschafter*innen, Bürgerinnen und Bürger und sogar Minderjährige wegen des Teilens von Beiträgen in den sozialen Medien vor Gericht verantworten. Allein 2017 wurden aufgrund dieses Paragraphen 20.593 Untersuchungen eingeleitet. 2.099 Personen wurden verurteilt. Nach dem Korruptionsskandal im Dezember 2013 wurden wegen Beleidigens von Erdoğan rund 13.000 Verfahren eingeleitet.
Verbote im Internet
Die erste große Maßnahme gegen die Meinungsfreiheit im Internet unternahm die türkische Regierung 2007. Damals wurde der Zugang zur Videoplattform Youtube in der Türkei unterbunden. Anschließend wurde im Schnellverfahren das Kommunikationsministerium gegründet und es wurden Gesetze erlassen, die Kinder vor den Gefahren im Internet schützen sollen. Mit dieser Begründung bekam die türkische Regierung die Möglichkeit, Zugänge zu ausgewählten Internetseiten zu verhindern. Später wurde das Gesetz 5651 erlassen, das mit der Zeit ausgedehnt wurde. Mit dem Gesetz bekam das Telekommunikationsministerium freie Hand. Zudem schützt das Gesetz die Mitarbeiter*innen des Ministeriums, falls sie Fehler machen. Auch der Zugang zu den im Ausland agierenden oppositionellen Seiten wird unterbunden. Die türkische Regierung greift immer wieder zu solchen Maßnahmen und sperrt bestimmte Plattformen im Internett.
Im März 2015 wurde das Gesetz um den Paragraph 8 A erweitert. Seither ist es dem Telekommunikationsministerium möglich, ohne Gerichtsbeschluss den Zugang zu Internetseiten zu sperren. 2015 wurde der Zugang zu 110.000 Interseiten gesperrt. 2016 lag die Zahl der verbotenen Internetseiten bei 213.398.
Am 29. April 2017 wurde das Internetlexikon Wikipedia komplett gesperrt. Wikipedia hatte sich geweigert, einen Artikel zu löschen, in dem es um die Unterstützung der türkischen Regierung für Terrorgruppen in Syrien geht.
Mit dem Gesetz 5651 wurden nach 2014 Facebook, Twitter und Youtube für zwei Jahre gesperrt. Das Verfassungsgericht hob die entsprechenden Urteile und Verbote später wieder auf, zog sich so jedoch den Zorn der türkischen Regierung zu. Erdoğan nannte das Twitter-Urteil „gayrımilli,“ nicht national.
Die sog. Friedens-Strafgerichte (Sulh Ceza Hakimlikleri), die mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattet im Juni 2014 ins Leben gerufen wurden, sperrten 20.000 URL. Diese Sondergerichte ordneten in 60 Urteilen jeweils eine Sperrung der Internetseite der Zeitung „Cumhuriyet“ an. Bei den Zeitungen „Sözcü“ waren es 36, bei „Radikal“ 28, bei „Zaman“ 24 und bei der Nachrichtenseite T24 rund 40 Urteile.
Verfassungsreform 2017 bringt noch mehr Einschränkungen
Die Verfassungsreform von 2017 gab Präsident Erdoğan umfangreiche Kompetenzen und versetzte der Meinungsfreiheit einen weiteren Hieb. Das Staatsoberhaupt hatte damit die Kontrolle sowohl über die Exekutive als auch über die Judikative erlangt. Die Venedig-Kommission des Europarates hatte im Vorfeld des Verfassungsreferendums ihre Bedenken erklärt. Die Verfassungsänderung sei ein Rückschritt, hatten die Experten gewarnt. Im April stimmten 51,4 Prozent der Bevölkerung der Türkei für die umstrittene Verfassungsänderung. Erdoğan konnte dadurch den „Rat der Richter und Staatsanwälte“ (Hakimler ve Savcılar Kurulu) mit seinen eigenen Leuten besetzen, die etwa über Richter entscheiden. Anschließend entschieden die Richter in Sachen Meinungsfreiheit im Einklang mit der Regierung.
Schlussfolgernd kann festgehalten werden, dass die AKP unter Erdoğan mit dem Putschversuch und dem Verfassungsreferendum ihre Macht vollständig ausgebaut hat. Damit ist der mächtige Mann in Ankara praktisch uneingeschränkter Herrscher in dem Land. Urteile gegen Journalisten sowie Oppositionelle gibt es auf Bestellung. Zuletzt hatten die AKP und ihr ultranationalistischer Oppositionspartner MHP ein neues Strafvollzugsgesetz verabschiedet. 90.000 Gefangene wurden damit entlassen. Politische Häftlinge hingegen konnten von der Amnestie nicht profitieren. Der ehemalige Co-Vorsitzende der prokurdischen linken HDP, Selahattin Demirtaş, sein Parteifreund und von der Regierung abgesetzter Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, der Menschenrechtler Osman Kavala oder Journalisten wie Mehmet Baransu müssen weiterhin hinter Gittern bleiben und sind dem Coronavirus damit schutzlos ausgeliefert. Der Putschversuch von 2016 kostete rund 250 Zivilisten das Leben. Seither hat es 511.000 Festnahmen gegeben. Die Meinungsfreiheit wird seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 massiv unterdrückt. 191 Journalistinnen und Journalisten sitzen in Haft, weil die Regierung sie in Verbindung mit dem Umsturzversuch bringt, 167 Medienschaffende, gegen die Haftbefehle erlassen worden waren, konnten sich ins Ausland absetzen. Zudem wurden 34 ausländische Journalistinnen und Journalisten des Landes verwiesen.
Forderungen und Handlungsempfehlungen:
- Die türkische Regierung muss alle Beschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit zurücknehmen. Alle internationalen Standards müssen eingehalten werden. Damit die Meinungs- und Pressefreiheit garantiert wird, bedarf es unabhängiger Institutionen.
- Das türkische Strafgesetzbuch und die türkischen Antiterrorgesetze dürfen nicht mehr zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit missbraucht werden. Die Kriminalisierung von Bürgerinnen und Bürgern aufgrund von kritischer Berichterstattung oder friedlicher Meinungsäußerung muss umgehend eingestellt werden.
- Journalist*innen müssen wieder die Sicherheit haben, dass sie wegen Gesagtem und Geschriebenem nicht mehr aufgrund der Terrorgesetze belangt werden. Anklagen gegen Medienschaffende, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, Mitarbeiter*innen von NGOs und Oppositionspolitiker und -politikerinnen müssen fallen gelassen werden.
- Sog. Beleidigungsparagraphen müssen überdacht werden und dürfen nicht gegen die Presse- und Meinungsfreiheit genutzt werden. Der Paragraph 299 des türkischen Strafgesetzbuches, der für die Beleidigung des Präsidenten (Majestätsbeleidigung) eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren vorsieht, muss komplett aufgehoben werden. Auch der Paragraph 125 des türkischen Strafgesetzbuches muss aufgehoben werden, der für die Beleidigung eine Haftstrafe von mindestens ein Jahr vorsieht.
- Die Ermittlungen gegen die „Wissenschaftler für den Frieden“ (Barış İçin Akademisyenler) wegen ihres Aufrufs zum Frieden und ihre Festnahmen müssen beendet werden. Entlassene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen wieder zurück an ihre Arbeitsplätze.
- Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die unabhängige Medien unterstützen. Die Sperrungen der Internetseiten von Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivist*innen müssen aufgehoben werden. Beschlagnahmte Medienhäuser und ihre Ausstattungen müssen unverzüglich zurückgegeben werden. Staatliche Medien müssen unabhängig berichten.
- Um die Meinungsfreiheit auch im Internet zu gewährleisten, muss das Gesetz 5651 geändert werden. Sperrungen müssen nur noch durch Gerichte möglich sein. Sperrungen von Internetseiten mit unendlicher Dauer müssen aufgehoben werden.
- Die Diskussion über die Anerkennung der nationalen Rechte der Angehörigen der kurdischen Volksgruppe und anderer ethnischer und religiöser Gemeinschaften wie der assyrischen/aramäischen, armenischen, christlichen, alevitischen und yezidischen Volksgruppe in den Print- und digitalen Medien sowie auch anderweitig darf nicht als „Terrorpropaganda“ eingestuft werden. Medienschaffende, Politiker*innen und andere Personen müssen das Recht haben, sich frei und ohne Angst zu der Politik des Landes äußern können.
Autoren: Erkan Pehlivan, Journalist (Frankfurt am Main) und Kamal Sido
Stand: April
2020
[1] UN-Angaben zitiert in der Zeitung „Die Welt“, 10.03. 2017.
[2] https://www.nzz.ch/international/europa/erdogan-beendet-friedensprozesses-mit-kurden-1.18586888, 28.07.2015.
[3] https://www.fr.de/kultur/erdogans-handeln-purer-wahnsinn-11630369.html, 28.10.15.
Sie müssen angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.