Chan Pui-man 陳沛敏 *1971 Großbritannien / Hongkong, seit 2024 in Haft in der VR China

Chan Pui-man ist eine Journalistin aus Hongkong. Seit 2024 ist sie in Haft

Chan Pui-man 陳沛敏 *1971 Großbritannien / Hongkong, seit 2024 in Haft in der VR China

Chan Pui-man kam 1996 als 25-jährige Reporterin zu APPLE DAILY, Hongkongs größter pro-demokratische Zeitung. Diese war kurz zuvor gegründet worden. Im März 2015 wurde Chan Pui-man die erste weibliche stellvertretende Herausgeberin. 

APPLE DAILY war die erste große Nachrichtenorganisation, die von der Regierung ins Visier genommen wurde. Peking hatte damals nach Massenprotesten und Unruhen das drakonische Nationale Sicherheitsgesetz (NSL) verhängt. 

Der Gründer und Eigentümer von APPLE DAILY, Jimmy Lai, wurde auf der Grundlage des neuen Gesetzes im August 2020 verhaftet. Dem 75-jährigen Medienmagnaten, dessen Zeitung sich über das NSL empörte, wurde vorgeworfen, er habe mit ausländischen Kräften zusammen gearbeiten, um internationale Sanktionen gegen Hongkong und chinesische Beamte zu erwirken. Jimmy Lai droht eine lebenslange Haftstrafe.

Fast ein Jahr nach Lais Verhaftung, am 17. Juni 2021, beschlagnahmte die Polizei bei koordinierten frühmorgendlichen Razzien in der Redaktion und in den Wohnungen der Mitarbeiter:innen von APPLE DAILY Dokumente und etwa 40 Computer. Fünf Personen wurden festgenommen, darunter Chan Pui-man. Ihr wurdeVerschwörung zur Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften vorgeworfen. 

Nachdem sie am 18. Juni gegen Kaution freigelassen worden waren, kehrten Chan Pui-man und die anderen Führungskräfte mutig in die Redaktion zurück. Es gab eine Diskussion unter den Reporter:innen darüber, ob es sicher sei, weiterhin die Artikel mit ihren eigenen Namen zu unterschreiben. Sie entschieden sich dazu, weiterhin unter Nennung ihres Namens zu veröffentlichen.

Nachdem die Behörden das Vermögen der Zeitung in Höhe von 1,69 Millionen Pfund eingefroren hatten, war APPLE DAILY allerdings nicht mehr in der Lage, Löhne und Stromrechnungen zu bezahlen. Die Zeitung musste den Betrieb einstellen.

Die letzte Druckausgabe der Zeitung wurde am 24. Juni 2021 veröffentlicht. Es wurden über eine Million Exemplare gedruckt statt der üblichen 86.000. Die Einwohner der 7,5-Millionen-Stadt standen Hunderte von Metern Schlange, um ihre Zeitung ein letztes Mal zu erhalten. Gegen Mitternacht wurde die Website mit 26 Jahren Inhalt gelöscht – von Berichten über den verborgenen Reichtum chinesischer Beamter bis hin zu Paparazzi-Fotos und Klatsch und Tratsch über Prominente. Um 23.55 Uhr wurde die letzte Meldung veröffentlicht, in der der Rücktritt von Chan Pui-man bekannt gegeben wurde.

An dem Abend, an dem APPLE DAILY ihre letzte Ausgabe in den Druck gab, verließ Chan den Redaktionsraum und gesellte sich zu den Kolleg:innen auf dem Dach, die der fünf Stockwerke tiefer versammelten Menge zuwinkten. Hunderte von Menschen waren im Regen zu den Büros von APPLE DAILY in einem abgelegenen Industriegebiet der Stadt gekommen, um sich von der beliebten Boulevardzeitung zu verabschieden, die nach 26 Jahren von den Behörden brutal eingestellt wurde.

Mit Fackeln, die wie Leuchtfeuer in der Dunkelheit leuchteten, bedankten sie sich bei den Mitarbeitern von APPLE DAILY mit Rufen wie „Wir werden euch nicht vergessen“.

Die Mitarbeiter waren gerührt und riefen ihren Unterstützer:innen etwas zu. Aber Chan Pui-man, so erinnert sich ein ehemaliger Kollege, stand zehn, vielleicht 15 Minuten lang schweigend an ihrer Seite. Dann ging sie wieder an die Arbeit.

Die Kaution von Chan Pui-man wurde im Juli 2021 widerrufen.

Im November 2021 bekannte sie sich zusammen mit fünf männlichen APPLE DAILY-Führungskräften vor dem Obersten Gerichtshof der Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften im Rahmen des NSL (Nationales Sicherheitsgesetz) schuldig. 

Es wird vermutet, dass Chan zu denjenigen gehört, denen ein weiterer Straferlass gewährt werden könnte, nachdem sie sich bereit erklärt hat, die Staatsanwaltschaft im Prozess gegen ihren ehemaligen Chef Lai zu unterstützen. 

Seit dem 9. Januar 2024 befindet sich die 51 jährige Chan Pui-man in Haft. Chan, so ein anonymer Kollege, ist froh, dass sie keine Kinder hat, denn das macht die Last ihrer Inhaftierung ein wenig leichter. 

Eine ehemalige Kollegin beschreibt sie als eine „sehr vorsichtige Person“. Clare (nicht ihr richtiger Name) sagt: 

„Ich habe nicht sehr eng mit ihr zusammengearbeitet, (…), aber wir haben uns oft im Büro getroffen. Sie schien eine sehr nette Person zu sein und zeigte nie, dass sie die Chefin ist. Sie war sehr gut darin, Geschichten an vorderster Front auszuwählen, und sie wusste, wie man Nachrichten mit einem ganz besonderen, scharfen Blickwinkel macht.“

Einen Eindruck von Chans Arbeitsmoral vermitteln ihre Kommentare in einem Interview, das nur wenige Tage vor der Schließung der Zeitung veröffentlicht wurde. 

„An einem freien Tag ist man nur ein normaler Bürger, der beobachtet, was in Hongkong passiert. Als Reporter hingegen kann man seine Energie darauf konzentrieren, die Entwicklungen zu verfolgen“. 

In demselben Interview erzählt sie, wie sie 2011 während der Nuklearkatastrophe in Fukushima in Japan berichtete und sich weigerte, zurückzukehren, als das Büro sie aus Angst vor den Folgen zurückrufen wollte. 

„Ich dachte mir: Du bist Reporterin, berichte.“ Sie fuhr fort: „Es gibt diese kleine Berufskrankheit, die Journalisten haben. Wann immer es eine Katastrophe oder ein Großereignis gibt, will man so nah wie möglich am Ort des Geschehens sein. Hongkong ist im Moment der größte Schauplatz.“

Der vielleicht ergreifendste und ungewöhnlichste Aspekt ihres Falles ist jedoch, dass ihr Ehemann Chung Pui-kuen, der Chefredakteur der inzwischen aufgelösten pro-demokratischen Nachrichten-Website STAND NEWS, fast sechs Monate nach ihr ebenso inhaftiert wurde. Jetzt, da Chung in einer 20 km entfernten Zelle sitzt, sind die beiden gezwungen, über Freunde und Verwandte zu kommunizieren.

In Hongkong bröckeln die Freiheiten der Justiz, des Einzelnen und der Presse. Einst eine Bastion unabhängiger Medien, ist Hongkong in 2022 im RSF World Press Freedom Index von Platz 80 auf Platz 148 von 180 Ländern zurückgefallen, während China selbst auf Platz 175 liegt. 

Was von den freien Medien in Hongkong übrig geblieben ist, wurde entweder heimlich oder brutal fast vollständig zerstört. 

„Das harte Vorgehen gegen die unabhängigen Medien in Hongkong hat die Welt zweifellos schockiert, aber die Demokratien haben nicht angemessen darauf reagiert“, so der Leiter des Ostasienbüros von RSF (Reporter ohne Grenzen). „Die schärfsten Maßnahmen – zwei Resolutionen des EU-Parlaments und die von der US-Regierung verhängten Sanktionen – sind eindeutig unzureichend.“

Diese schwache Reaktion, warnt er, diene als „stillschweigende Ermutigung“ für Chinas autoritäre Machtübernahme, und wenn nicht gehandelt werde, würden die Journalisten von APPLE DAILY „für den Rest ihres Lebens im Gefängnis bleiben“. „Die Zahl der Medienschließungen und der inhaftierten Journalisten wird in die Höhe schießen“, fügt er hinzu.

„Heute ist jeder Tag in einer Hongkonger Nachrichtenredaktion wie die Arbeit in einer „Regierungsabteilung“, sagt Clare (nicht ihr richtiger Name), die ehemalige Kollegin von Chan Pui-man, wobei die Journalist:innen, die in Scheinprozesse verwickelt sind, durch „dumme“, peking-freundliche Redakteure ersetzt werden, die roboterhaft der Parteilinie folgen. 

Clare weiter: „Es gibt keinen Bedarf für Pressekonferenzen, (…) es gibt keine Quellen, die reden oder Kommentare abgeben“, sagt sie. Da sie sich machtlos fühlten, haben ihre Journalistenfreunde Hongkong entweder verlassen oder eine Umschulung gemacht und arbeiten als Uber-Fahrer oder in Restaurants; einer von ihnen hat einen Kurs in Abwasserentsorgung belegt, da sein alter Medienbetrieb von Peking so gründlich gesäubert worden war. „Jeder, der an vorderster Front für die Demokratie kämpfte, wurde ausgelöscht“, sagt sie, „alle wurden ausgelöscht.“ 

Quellen: thecfhk.org, www.hongkongwatch.org, wikipedia, hklabourrights.org

Text: Gerhard Keller, Mai 2025

Künstlerin: Renate Kuby