Jelena Kostjutschenko, *1987 Russland, 2022 Giftanschlag in Deutschland
Jelena Kostjutschenko begann bereits in ihrer Schulzeit journalistisch zu arbeiten. Ihre ersten Veröffentlichungen erschienen in einer Regionalzeitung. Eigenen Angaben zufolge war sie zu dieser Zeit stark von den Texten Anna Politkowskajas beeinflusst, die maßgeblich zu der Entscheidung beitrugen, ebenfalls für die NOWAJA GASETA arbeiten zu wollen.
Im Jahr 2004 zog sie nach Moskau, um sich an der Lomonossow-Universität für ein Journalismus-Studium einzuschreiben. Von 2005 bis 2022 arbeitete sie als Sonderkorrespondentin für die NOWAJA GASETA. Sie schrieb unter anderem über das Pussy-Riot-Verfahren.
Jelena Kostjutschenko war die erste Journalistin, die die Informationsblockade hinsichtlich des Massakars in Schangaösen im Westen Kasachstans (2011) durchbrach. Mindestens 14 Demonstranten wurden dabei in der von Ölindustrie geprägten Stadt im Zuge von Protesten am Unabhängigkeitstag Kasachstans von der Polizei getötet.
Aleksandr Litoi von der Zeitung RBK DAILY über Kostjutschenko: „Diese kleine und zerbrechliche junge Frau Jelena Kostjutschenko ist eine extreme Journalistin. Mafiosi aus Kuschtschowka, Schlägereien in Chimky und Straßenprostituierte sind ihre Themen.“
Jelena Kostjutschenko ist offen lesbisch. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie vor ihrer Teilnahme an der Gay Pride Parade einen Aufruf an die Öffentlichkeit mit dem Titel „Warum ich heute zu einer Gay Pride Parade gehe“, in dem sie sich entschieden gegen Homophobie und Diskriminierung von Schwulen und Lesben aussprach und gleiche Rechte für sexuelle Minderheiten forderte. Ihr diesbezüglicher Post erreichte in den sozialen Netzwerken über 10.000 Kommentare. Daraufhin wurde sie von einem russisch-orthodoxen Aktivisten angegriffen, der ihr ins Gesicht schlug. Im Krankenhaus wurde ein Barotrauma diagnostiziert.
In den Jahren 2012–2013 initiierte Jelena Kostjutschenko viermal vor den Mauern der Staatsduma Aktionen unter dem Titel „Tag der Küsse“. Diese Kundgebungen fanden zeitgleich mit den Beratungen des Parlaments zum Gesetzesentwurf über das Verbot „homosexueller Propaganda“ statt.
Am 1. September 2015 berichtete Kostjutschenko von einer nicht genehmigten Aktion von sechs Frauen, die Verwandte bei der Geiselnahme von Berslan verloren hatten sowie über ihren Prozess am selben Tag. Die sechs Frauen wurden wegen Ordnungswidrigkeiten schuldig gesprochen.
Zu Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine ging sie als Sonderkorrespondentin der NOWAJA GASETA in die Ukraine, wo sie im März 2022 vier Geschichten schrieb: eine von der Grenze, eine von Odessa, eine aus Mykolajiw und eine aus Cherson. Am 30. März plante sie, nach Mariupol zu reisen. Allerdings erhielt dann sie eine Warnung von einigen Kollegen und ukrainischen Geheimdienstquellen, dass tschetschenische Einheiten an russischen Kontrollpunkten angewiesen worden seien, sie zu töten. Der Chefredakteur der NOWAJA GASETA, Dmitri Muratow rief sie an und sagte: „Fahre bitte nicht nach Russland zurück: Dein Leben ist in Gefahr.“
Daraufhin verließ sie die Ukraine und ging nach Deutschland, wo sie eine Wohnung in Berlin fand.
Ende September 2022 begann sie, von Deutschland aus bei der zweisprachigen Internet-Zeitung (englisch und russisch) MEDUZA, die als Exilmedium ihren Sitz in Riga hat, zu arbeiten. MEDUZA wurde 2021von der russsichen Regierung in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufgenommen, seit März 2022 ist in Russland ein Zugriff auf ihre Webseite nicht mehr möglich.
Die Journalistin war sich der Gefahr, im vermeintlich sicheren Deutschland Opfer eines Giftanschlags zu werden, offenbar nicht bewusst.
In MEDUZA berichtete sie über den Anschlag. Sie sei mit dem Zug nach München gefahren. Im Schlaf habe sie offensichtlich jemand am Fuß berührt. Wahrscheinlich wurde sie dabei mit Nervengift in Kontakt gebracht. In München traf sie sich mit einer Freundin in einem Café. Beim Essen bemerkte sie, dass sie kaum noch etwas schmeckte; drei Personen, zwei Frauen und ein Mann, seien an ihrem Tisch auffällig stehen geblieben. Weitere Vergiftungssymptome wurden auf der Rückfahrt deutlich: ihr Schweiß roch so faulig, dass ihr die Freundin ein Deodorant anbot, hinzu kamen Kopfschmerzen und fehlende Konzentrationsfähigkeit.
Am nächsten Morgen hatte sie intensive Magenschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Atemnot, Müdigkeit, extreme Angst und konnte in den nächsten Tagen kaum noch schlafen.
Zehn Tage vergingen, bis Kostjuschenko einen Arzt konsultiert hatte. Medizinische Tests zeigten, dass die Mengen an Leberenzymen ALT und AST in ihrem System fünfmal höher waren als normal, und Blut wurde in ihrem Urin nachgewiesen. Bald zeigten sich neue Symptome: Schwellungen im Gesicht und Fingern sowie Rötung der Hände und Füße. Deutsche Ärzte schlossen eine Reihe von Diagnosen (einschließlich Virushepatitis, Autoimmunerkrankungen und Niereninfektion) aus, bevor sie zu dem Schluss kamen, dass Kostjuschenko möglicherweise vergiftet wurde. Sie empfahlen, sich im Berliner Charité-Krankenhaus auf Toxine testen zu lassen, wo Alexey Navalny 2020 wegen Nowitschok-Nervengiftvergiftung behandelt worden war. Erst Mitte Dezember stellte sie sich in der Charite vor. Dem Befund zufolge konnten keine Beweise für eine Vergiftung gefunden werden. Allerdings gingen verschiedene Laborergebnisse verloren, ihr Blut sei nur auf Alkohol, Narkotika und Antidepressiva getestet worden.
Das russische Exilmedium THE INSIDER, das auch mit dem Recherchenetzwerk Bellingcat zusammenarbeitet, hat alle medizinischen Unterlagen unabhängigen Expertinnen vorgelegt. Diese kamen zum Schluss, dass es sich bei dem möglichen Giftstoff um eine hochtoxische chlororganische Verbindung gehandelt haben könnte. MEDUZA sprach über den Giftanschlag mit dem Experten Dr. Marc-Michael Blum von der OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen). Dieser sieht ein neues Muster. „Während Nervengift wie VX und Novichok sicher verwendet werden, um zu töten, scheint es bei den neuen Fällen so zu sein, dass die Verwendung der Substanzen nicht unbedingt lebensbedrohlich ist, sondern die Gesundheit der Geschädigten massiv beeinträchtigt“ sagt Blum, der sich auf chemische und biologische Kampfstoffe spezialisiert hat.
Im Nachhinein sagt Kostjutschenko, dass sie nachlässig war. Sicherheitsregeln, die sie in Russland befolgt habe, habe sie in Deutschland nicht mehr eingehalten, weil sie sich sicher gefühlt habe. Das habe sich nun geändert. Nun achte sie, wie in Russland, wieder darauf, wer auf der Straße vor oder hinter ihr gehe. Sie achte sehr darauf, welche Kommunikationskanäle sie benutze und welche Informationen sie weitergebe, sei es per Telefon oder per E-Mail.
Im Oktober letzten Jahres hat sie ihr Buch „Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Es geht darum, wie Russland zum Faschismus kam. Sie fürchtet, die Täter könnten noch einmal versuchen, sie umzubringen.
Bei MEDUZA hat Jelena Kostjutschenko gekündigt. Ob sie irgendwann wieder in der Lage ist, als Reporterin zu arbeiten, ist fraglich. Sie soll alle sechs Monate ihr Blut untersuchen lassen.
Auszeichnungen (stark gekürzte Auswahl)
2013: Gerd Bucerius-Förderpreis Freie Presse Osteuropas der deutschen Zeit-Stiftung und der norwegischen Stiftung Fritt Ord.
- 2015: Andrei-Sacharow-Preis „За журнализм как поступок“
- 2015: Achmednabi-Achmednabiew-Preis, 2. Preis – für die Reportage „Сны Беслана“ (deutsch: Die Träume von Beslan).
- 2020: „Камертон“-Preis der Russischen Journalisten-Vereinigung zu Ehren Anna Politkowskajas.
Quellen: taz.de/Meduza-Auswahl-10-bis-16-August/!5954187/
meduza.io/en/feature/2023/08/15/the-most-likely-explanation
taz.de/Verdacht-auf-Journalisten-Vergiftungen/!5950316/
www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/kreml-laesst-exil-journalisten-in-deutschland-mutmasslich-vergiften-19120543.html
www.blick.ch/politik/russische-exil-journalistin-ueberlebte-mutmasslichen-mordversuch-ich-bin-es-gewohnt-mich-nicht-sicher-zu-fuehlen-id19413053.html
www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/ttt-15102023-jelena-kostjutschenko-100.html
www.faz.net/aktuell/politik/inland/russische-journalistin-von-putins-schergen-in-deutschland-vergiftet-19171593.html
www.cpj.org/2023/08/cpj-calls-for-investigation-into-alleged-poisoning-of-exiled-russian-journalists-elena-kostyuchenko-and-irina-babloyan/
theins.ru/politika/264260
Stand der Recherche: Oktober 2024
Text: Gerhard Keller
Künstlerin: Kati Bedzent
Sie müssen angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.