Razan Zaitouneh, * 1977 Syrien, entführt und vermisst seit 2013
Razan Zaitouneh ist eine der demokratischen Opposition angehörende syrische Rechtsanwältin, Journalistin und Bloggerin.
Sie studierte bis 1999 in Damaskus Rechtswissenschaften. Ab 2001 arbeitete sie als Anwältin mit Schwerpunkt Menschenrechte und gehört zu den Gründungsmitgliedern der syrischen Menschenrechtsorganisation HRAS.
Seit 2004 veröffentlichte sie viele Beiträge zur Situation der Menschenrechte in ihrem Heimatland. Auch ist sie Mitbegründerin des Violations Documentation Center (VDC), wo sie die Menschenrechtsverletzungen und Gewaltanwendungen aller Kriegsparteien seit 2011 dokumentierte.
Seit Beginn der syrischen Revolution 2011 lebte sie gezwungenermaßen im Untergrund, nachdem sie öffentlich als ausländische Agentin diffamiert wurde und der Geheimdienst ihr Haus erstürmte.
Im Dezember 2013 wurde sie – gemeinsam mit anderen Personen – entführt und gilt seither als vermisst. Als Verantwortliche dieser Entführung kommen sowohl die syrischen Behörden als auch Oppositionsgruppen in Frage, von denen sie gleichermaßen bedroht wurde. Zaitouneh erhielt für ihr Engagement zahlreiche Auszeichnungen: unter anderem den Menschenrechtspreis des Europäischen Parlaments, den Sacharow-Preis und den Petra-Kelly-Preis.
Die DEUTSCHE WELLE (DW) zeichnet die damaligen Ereignisse 2021 folgendermassen nach:
„Syrien im März 2011. Der Arabische Frühling ist da: Razan Zaitouneh strahlt über das ganze Gesicht und tanzt inmitten von Demonstranten durch die Straßen der Hauptstadt Damaskus. Sie lässt sich mitreißen vom Jubel und stimmt ein in die Sprechchöre gegen das syrische Regime. Videos aus dieser Anfangsphase dokumentieren, dass die junge Anwältin mit den rotblonden Haaren oft als Wortführerin in der ersten Reihe steht.
Nur einen Tag nach den ersten großen Protesten am 15. März initiiert sie mit Gleichgesinnten einen offenen Brief, in dem die Aktivisten das Assad-Regime zur Freilassung von politischen Gefangenen auffordern.
„Wir stellen uns einem der brutalsten Regimes in der Region und der ganzen Welt entgegen, vor allem durch friedliche Proteste, durch friedliche Lieder, durch unsere Rufe nach einem neuen Syrien“, erklärt sie in einer Videobotschaft aus dieser Zeit. „Ich bin sehr stolz darauf, Syrerin zu sein. Und stolz darauf, Teil dieser historischen Tage zu sein und die innere Stärke meines Volkes zu spüren.“
Mit knapp 34 Jahren übernimmt Zaitouneh damals eine wichtige Führungsrolle. Sie organisiert Demonstrationen im ganzen Land und hilft bei der Gründung der sogenannten lokalen Koordinierungskomitees, die zum organisatorischen Rückgrat des friedlichen Widerstands gegen Machthaber Baschar al-Assad werden.
Die Anwältin schreibt auch für ausländische Zeitungen und Organisationen über die syrische Revolution – und lehnt jede Form von Gewalt ab. Bewaffneter Widerstand ist für sie keine Option. Das unterscheidet sie von Mitstreitern, die später im Kampf gegen das Regime entweder selber zu den Waffen greifen oder bewaffnete Gruppen unterstützen.
„Razan ging es niemals um Macht“, betont ihr langjähriger Weggefährte Mazen Darwish im Gespräch mit der DW. Seine Augen leuchten, wenn er über sie spricht. Darwish lebt heute im Exil und leitet das ‚Syrian Center for Media and Freedom of Expression‘ in Paris. „Für mich ist Razans herausragende Eigenschaft, wie sehr sie gegen Ungerechtigkeit kämpft. Sie ist bereit, alles zu geben, um Ungerechtigkeit zu bekämpfen.“
Die Saat der Revolution
Dieser Kampf begann schon viele Jahre vor der Revolution. Als die syrischen Behörden Mitte der 2000er Jahre gewaltsam gegen radikalislamische Salafisten vorgingen, übernahm Zaitouneh ihre Verteidigung. Ausgerechnet sie – eine weltoffene junge Frau – setzte sich für die Anhänger einer ultrakonservativen Variante des Islam ein, in der Frauen sich voll zu verschleiern haben.
Für Zaitouneh selbst kein Widerspruch. In ihrem letzten veröffentlichten Artikel beschrieb sie ihr Rechtsverständnis so: „Alle Menschen haben die gleichen Rechte und müssen gerecht behandelt werden. Da gibt es keinen Raum für Interpretationen, das ist nicht verhandelbar.“
Öffentlich war die staatliche Verfolgung der Salafisten damals ein Tabu-Thema in Syrien. Wer das harte Vorgehen des Sicherheitsapparats öffentlich kritisierte, brachte sich in Gefahr. „Razan organisierte trotzdem für mich in ihrem Büro ein heimliches Treffen mit Müttern der Inhaftierten“, berichtet Nadim Houry im Gespräch mit der DW.
Houry arbeitete zu diesem Zeitpunkt für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und wurde in den Folgejahren ein enger Freund der syrischen Anwältin: „Sie ging unglaubliche Risiken ein für Personen, die sie kaum kannte. Aber sie wollte die Geschichte (der Salafisten) unbedingt öffentlich machen und war bereit, dafür ihr eigenes Leben in Gefahr zu bringen.“
Zaitouneh taucht unter
Als der Arabische Frühling Syrien im Frühjahr 2011 erreicht, antwortet das Regime mit Gewalt. Immer mehr Oppositionelle werden verhaftet. Im April, nur einen Monat nach den ersten großen Massendemonstrationen gegen Baschar al-Assad, gründet Razan Zaitouneh mit Gleichgesinnten das ‚Violations Documentation Center‘ (VDC), um Verstöße gegen die Menschenrechte zu dokumentieren.
Zu diesem Zeitpunkt wird auch sie bereits von Assads Geheimdienst verfolgt und unter Druck gesetzt. Als ihr Ehemann im Mai festgenommen und für drei Monate eingesperrt wird, taucht Zaitouneh in Damaskus unter. Im Untergrund erfährt sie, dass das EU-Parlament sie mit dem Sacharow-Preis ehrt.
Später, im April 2013, flieht sie dann in die Rebellenhochburg Duma nördlich der Hauptstadt. Hier wird sie im Sommer Zeugin des verheerenden Giftgasangriffs auf die Region Ost-Ghuta, zu der Duma als größte Stadt gehört.
Unabhängigen Quellen zufolge sterben damals mindestens 1.000 Menschen durch den Beschuss mit der tödlichen Chemikalie Sarin, darunter mehr als 400 Kinder. Zaitouneh und ihre Kollegen vom VDC dokumentieren das Grauen. Sammeln Beweise. Damit den Schuldigen der Prozess gemacht werden kann. Irgendwann.
„Ich habe das Massaker mit eigenen Augen gesehen“, schreibt die Anwältin über den Angriff. „Ich sah die Leichen von Männern, Frauen und Kindern auf den Straßen. Ich hörte Mütter schreien, wenn sie die Leichen ihrer Kinder unter den Toten fanden.“
Die „Monster“ von Duma
Doch sie dokumentiert nicht nur die Brutalität des Assad-Regimes. Sondern auch die der bewaffneten Gruppen, die im Sommer 2013 in Duma und anderen Teilen Ost-Ghutas um die Herrschaft kämpfen. Darunter Extremisten und radikale Islamisten: der sogenannte ‚Islamische Staat‘. Die al-Nusra-Front, die dem Terrornetzwerk Al-Kaida nahesteht. Und Dschaisch al-Islam, die ‚Armee des Islam‘, die den Machtkampf schließlich für sich entscheidet.
„Wir haben doch keine Revolution gemacht und Tausende von Menschen verloren, damit solche Monster kommen und sich das gleiche Unrecht wiederholen kann“, schreibt die Anwältin damals in einer E-Mail an ihren Freund Nadim Houry. „Diese Leute müssen genauso zur Rechenschaft gezogen werden wie das Regime.“
Gräuel. Folter. Attentate. Unterdrückung. Vertreibung. Die Anwältin und das VDC führen Buch darüber, wie die Rebellenhochburg zum rechtlosen Raum verkommt. Auch Zaitounehs westlicher Lebensstil ist eine Herausforderung für Dschaisch al-Islam. Die selbsternannten Gotteskrieger setzen in Duma ihre strikte Auslegung der Scharia durch. Zaitouneh fällt auf. Durch ihre Kleidung. Und weil sie kein Kopftuch trägt.
„Razan gründete Initiativen für Frauen und begann, Übergriffe zu dokumentieren, in Gefängnissen und anderswo“, erinnert sich ihr VDC-Kollege Thaer H., der heute in Frankreich lebt. „All das machte sie zu einer Konkurrentin für Dschaisch al-Islam, ihre Kontrolle, ihre Ideologie und ihren Wunsch, ein Emirat oder Kalifat zu errichten.“
Im Sommer 2013 schießen Unbekannte vor dem Büro des VDC in die Luft und hinterlassen eine Patronenhülse vor der Tür. Später erhält Zaitouneh einen Drohbrief, in dem der Verfasser fünfmal schreibt: „Ich werde dich töten.“
Wie in Damaskus, dem Machtzentrum Assads, ist die Menschenrechtlerin jetzt auch in der Rebellenhochburg Duma in Gefahr.
Entführt und spurlos verschwunden
Das letzte Lebenszeichen stammt vom 9. Dezember 2013. Am späten Abend gegen 23 Uhr stürmen unbekannte Bewaffnete ihr Büro und verschleppen Razan Zaitouneh, ihren Ehemann Wael Hammada und die beiden Aktivisten Nazem Hammadi und Samira al-Khalil. Seither fehlt jede Spur. Es gibt viele Gerüchte. Indizien. Doch keine Beweise.
Vielleicht können laufende Ermittlungen in Frankreich zur Klärung des Falls beitragen. Hier haben die Familien der Vermissten gemeinsam mit dem Syrischen Zentrum für Menschenrechte in Paris (SCM) und der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) Strafanzeige gestellt und Dschaisch al-Islam schwer belastet. Die DW konnte sie in Auszügen einsehen.
Seit Anfang 2020 sitzt ein ranghohes Mitglied der radikalen Islamisten in französischer Haft – angeklagt wegen Folter, Kriegsverbrechen und Mittäterschaft in einer Zwangsverschleppung. Der Inhaftierte ist heute Anfang 30 und hielt sich zum Zeitpunkt seiner Verhaftung in Marseille mit einem Studentenvisum in Frankreich auf.
Unabhängig davon hat die DW mehrere Zeitzeugen in Syrien und in der Türkei befragt. Die Namen sind der Redaktion bekannt, müssen aber aus Sicherheitsgründen unerwähnt bleiben. Auch ihre Aussagen untermauern den Verdacht, dass Razan Zaitouneh nach ihrer Entführung in der Gewalt von Dschaisch al-Islam war.
Die DW hat mehrere Vertreter der islamistischen Gruppe, die nicht auf der UN-Terrorliste steht, mit den Vorwürfen konfrontiert. Alle haben eine Beteiligung an der Verschleppung kategorisch zurückgewiesen. Die Befragten haben ihrerseits den Verdacht geäußert, dass entweder die mit Al-Kaida verbundene Nusra-Front oder das Assad-Regime verantwortlich seien.
Die Verschleppung bleibt ein großes Rätsel und taugt als Sinnbild der syrischen Revolution. Duma, der Ort des Verbrechens, ist seit 2018 wieder unter der Kontrolle des syrischen Machtapparats – auch dank massiver russischer Hilfe.
„Das Schicksal von Razan und ihrer Kollegen ähnelt dem der zivilen, friedlichen Bewegung, die versuchte, eine moralische Alternative für Syrien zu schaffen“, bringt es Mazen Darwisch auf den Punkt, der vor 10 Jahren gemeinsam mit Zaitouneh das VDC gründete. „Sie wurden zwischen dem Regime und diesen [islamistischen] Gruppen zerquetscht, die am Ende auch autoritär sind.“
Anmerkung der Redaktion: Die DW recherchiert weiterhin das Verschwinden von Razan Zaitouneh und ihren Kollegen. Wenn Sie Informationen über ihren Verbleib oder die Umstände ihrer Entführung haben, kontaktieren Sie uns bitte sicher unter: DW.tips@protonmail.com
Quelle: https://www.dw.com/de/razan-zaitouneh-syriens-verstummte-stimme-der-revolution/a-56868567
Künstler: Marcus Schneider
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