Marina Owsjannikowa, * 1978 Ukraine, protestierte 2022 im russischen TV gegen den Krieg
Marina Owsjannikowa, Tochter eines Ukrainers und einer Russin, Mutter zweier Kinder (11 und 17 Jahre alt), ist eine russische Redakteurin. Sie war von 2004 bis 2022 bei dem halbstaatlichen Fernsehsender PERWY KANAL für Auslandsnachrichten zuständig war.
Dann begann der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Bald darauf, am 15. März, distanzierte sie sich in einem Video auf FACEBOOK von ihrer Tätigkeit. Sie bekundete ihre Scham dafür, dass sie für die russische Staatspropaganda gearbeitet hatte. In diesem Video bezeichnete sie „das, was jetzt in der Ukraine geschieht“ als ein Verbrechen, Russland als Aggressor und Putin als einzig Verantwortlichen. Weiter heißt es in dem Video:
„Wir haben 2014 geschwiegen, als das alles anfing. Wir sind nicht für Demonstrationen rausgekommen, als der Kreml Nawalny vergiftet hat. Wir haben dieses menschenfeindliche Regime einfach nur stillschweigend beobachtet. Jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewendet. […] Wir, die russischen Menschen, können denken und sind klug. Es liegt nur an uns, diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren. Fürchtet nichts. Sie können uns nicht alle einsperren.“
Einen Tag vor der Veröffentlichung dieses Videos hielt sie während einer Hauptnachrichtensendung hinter der Nachrichtensprecherin ein selbst gefertigtes Protest-Plakat mit der Aufschrift in russischer und englischer Sprache in die Kamera:
„Kein Krieg
Beenden Sie den Krieg
Glauben Sie der Propaganda nicht
Hier werden Sie belogen
Russen gegen den Krieg“.
Dazu rief sie „ Beendet den Krieg! Kein Krieg!“
Owsjannikowa wurde daraufhin vorübergehend festgenommen, zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel verurteilt und vorerst freigelassen. Sie wurde bisher nicht nach dem neuen Mediengesetz verurteilt, sondern wegen „Organisation einer nicht erlaubten öffentlichen Aktion“. Es wurde aber eine Voruntersuchung wegen „Herabsetzung der russischen Streitkräfte“ eingeleitet.
Für die Behauptung von „Falschnachrichten“ über das russische Militär sieht ein neues im Eilverfahren im März 2022 verabschiedetes Gesetz ein Strafe bis zu 15 Jahren Haft vor. Am 25. März wurde sie wegen angeblicher Diskreditierung der Armee angeklagt.
Der halbstaatliche PERWY KANAL ist der populärste Sender in Russland. Eine Aufzeichnung der Nachrichtensendung vom 14. März 2022 stand nicht zum Download zur Verfügung, was für diesen Fernsehsender ungewöhnlich ist. Livesendungen werden seither um bis zu zwei Minuten versetzt übertragen.
Marina Owsjannikowa hat erklärt, Russland nicht verlassen zu wollen. Sie arbeitet nun aus Moskau als freie Mitarbeiterin für die „WELT“ und den Fernsehsender „WELT“. Im April 2022 engagierte der deutsche Medienkonzern AXEL SPRINGER SE sie als freie Korrespondentin in Moskau für „DIE WELT“ und den dazugehörigen Fernsehsender. Danach gelang ihr die Ausreise nach Deutschland, und sie hielt sich ab Anfang Mai 2022 in Berlin auf. Die Anstellung bei der deutschen Zeitung endete jedoch nach weniger als drei Monaten. Ukrainische Aktivisten hatten ihre Entlassung gefordert, unter zum Teil fragwürdigen Begründungen: ihr Auftritt sei eine inszenierte Aktion der russischen Propaganda, um im Westen Sympathien für Russ:innen zu wecken und von dem von ihnen verursachten menschlichen Leid in der Ukraine abzulenken. Dem widersprach die mutige Journalistin öffentlich. Das ukrainische „Zentrum für strategische Kommunikation und Informationssicherheit“ erhob den Vorwurf, Owsjannikowa nutze ihre im Westen erlangte Anerkennung und Glaubwürdigkeit, um beim westlichen Publikum für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland zu werben. Kritisiert wurde auch, eine Person, die jahrelang für die russischen Staatsmedien gearbeitet habe, könne nicht glaubwürdig für freien Journalismus einstehen. Auch Vertreter der oppositionellen russischen Medien betrachteten ihre Beschäftigung in Deutschland als fragwürdiges Signal, solange unabhängige Journalisten, die seit Jahren kritische Berichterstattung in Russland betreiben, im Ausland oft nur geringe Unterstützung erführen. Am 21. April 2022 verlieh die deutsche Weimer Media Group (WMG) Owsjannikowa den Preis für Medienfreiheit. Aufgrund von Protesten des „Nationalen Rates der Ukraine für Fernsehen und Rundfunk“ wurde sie jedoch anschließend aus der Liste der Preisträger ausgeschlossen.
Anfang Juli 2022 kehrte Owsjannikowa nach Moskau zurück, nachdem ihr Ex-Mann einen Streit um das Sorgerecht für die beiden Kinder begonnen hatte.
Beharrlich protestierte sie weiter: am 15. Juli 2022 in der Nähe des Kreml mit einem Antikriegsplakat mit der Aufschrift:
„Putin ist ein Mörder“
„Seine Soldaten sind Faschisten“
„In der Ukraine sind bereits 352 Kinder getötet worden“
„Wie viele Kinder müssen noch sterben, bis ihr aufhört?“
Daraufhin wurde Owsjannikowa erneut festgenommen und zwei Tage später wieder freigelassen. Ein paar Tage später stand sie in Moskau vor Gericht. Owsjannikowa nannte das Verfahren gegen sie „absurd“ und bekannte sich vor einem Moskauer Verwaltungsgericht schuldig, die Streitkräfte Russlands in sozialen Medien in Misskredit gebracht zu haben. Das Gericht verurteilte sie zu einer Geldstrafe von 50.000 Rubel (etwa 815 Euro).
Am 9. August 2022 wurde sie wegen eines FACEBOOK-Posts, in dem sie den russischen Militäreinsatz in der Ukraine offen kritisierte, erneut zu einer Geldstrafe, diesmal in Höhe von 40.000 Rubel (645 Euro), verurteilt. Begründet wurde die Strafe damit, dass sie die russische Armee „diskreditiert“ habe. Einen Tag darauf wurde sie wieder festgenommen. Zuvor waren ihre Privaträume durchsucht worden. Die Festnahme bezieht sich nach Angaben ihres Anwalts auf die Protestaktion im Juli. Am 11. August 2022 verfügte ein Gericht einen bis zum 9. Oktober 2022 befristeten Hausarrest gegen sie.
Am 3. Oktober 2022 wurde sie auf eine nationale Fahndungsliste gesetzt, nachdem ihr Ex-Mann angab, sie sei mit der gemeinsamen 11-jährigen Tochter aus dem Hausarrest geflüchtet.
„Ich betrachte mich als völlig unschuldig und da unser Staat sich weigert, sich an seine eigenen Gesetze zu halten, weigere ich mich seit dem 30. September 2022, mich an die mir auferlegte Zwangsmaßnahme in Form von Hausarrest zu halten, und ich entlasse mich selbst aus ihm.“
bekannte sie zwei Tage später öffentlich.
Am 17. Oktober 2022 meldete ihr Anwalt, sie habe mit ihrer Tochter das Land verlassen und befände sich nunmehr unter dem Schutz eines EU-Staats. Am gleichen Tag entschied ein Moskauer Gericht, dass die Kinder beim Vater zu verbleiben hätten.
Fast ein Jahr später, im Oktober 2023 wurde Owsjannikowa in Abwesenheit vom Moskauer Bezirksgericht Basmanny für das „Verbreiten von Falschmeldungen über die russische Armee“ zu achteinhalb Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Zusätzlich wurde ihr für vier Jahre das Recht entzogen, „sich an der Verwaltung von Webseiten und anderer Informationsnetzwerke zu beteiligen“. Das Urteil bezog sich auf die o.g. Protestaktion im Juli 2022 in der Nähe des Kreml.
In Russland erhielt sie prominente Unterstützung u.a. von dem Politologe Abbas Galljamow, dem Korrespondent von RADIO SWOBOD Danila Galperowitsch, dem Ökonom Andrei Netschajew, Alexei Nawalny (+), dessen Pressesekretärin Kira Jarmysch sowie die Oppositionellen Ljubow Sobol, Lew Schlosberg, Dmitri Gudkow und der inzwischen inhaftierte und zwangsausgebürgerte Politiker,Kolummnist und Putinkritiker Ilja Jaschin. Der DOSCHD-Journalist Timofei Dsjadko verglich Owsjannikowas Aktion mit der Aktion von Natalja Gorbanewskaja bei der Demonstration vom 25. August 1968 auf dem Roten Platz gegen die Unterdrückung des Prager Frühlings.
Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, bezeichnete die Tat hingegen als Rowdytum beziehungsweise Hooliganismus.
Die NOWAJA GASETA verwendete das Bild des Protestes auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 16. März 2022, das dreimal verwendete Wort „Krieg“ jeweils verpixelt. Die Zeitung hatte wegen der eingeführten Militärzensur ihre Online-Berichterstattung zum Krieg vorübergehend reduziert, da sie die Existenz der Zeitung gefährden könnten. An vielen Kiosken war das Heft nicht erhältlich.
International wurde Owsjannikowas Aktion von vielen Seiten gelobt. Der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj betonte, er sei allen Russen dankbar, „die nicht aufhören, die Wahrheit zu sagen“. Der französische Präsident Emmanuel Macron bot Owsjannikowa am 15. März 2022 Asyl in Frankreich an. Am 21. Februar 2023 äußerte Owsjannikowa sich in der Sendung von Markus Lanz zur Argumentation der populistischen Politikerin Sahra Wagenknechts und sagte, seit 2014 (russische Annexion der Krim) habe sie das Gefühl, „dass Sahra Wagenknecht von Putin bezahlt wird“. Wagenknecht würde Putins Narrative forcieren.
2023 gab der Langen Müller Verlag München ihren Bericht über die Ereignisse auf deutsch als Buch heraus: „Zwischen Gut und Böse. Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte“.
Quellen: Wikipedia, www.rnd.de, www.deutschlandfunkkultur.de, www.sueddeutsche.de
Künstler: Patrick MacAllister
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