
Anas Al-Sharif, *1996 Palästina / Gaza, getötet 2025 in Palästina / Gaza
Anas Jamal Mahmoud Al-Sharif war ein palästinensischer Journalist des arabischsprachigen Senders AL JAZEERA aus Katar. Bekannt wurde er durch seine Berichterstattung aus dem Norden des Gazastreifens während des Gaza-Krieges. Al-Sharif wurde am 10. August 2025 durch einen israelischen Luftangriff auf das Pressezelt vor dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt getötet.
Er wurde 1996 im Flüchtlingslager Dschabaliya im Gazastreifen als Sohn einer Flüchtlingsfamilie geboren, die während der Nakba von 1948 aus der Stadt Al-Majdal (der heutigen israelischen Stadt Aschkelon) vertrieben worden war. Bereits als Kind wollte er Journalist werden; in sozialen Medien wurden nach seinem Tod Fotos des jungen Al-Sharif gepostet, die zeigen, wie er während des Gaza-Krieges 2008/2009 den Berichten von Journalisten zusieht. Al-Sharif schloss sein Studium an der Al-Aqsa-Universität mit dem Bachelor in Medien- und Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Hörfunk und Fernsehen ab. Er machte ein Volontariat beim Al-Shamal Media Network und arbeitete anschließend als Reporter und Videograf, zuletzt als Nordgaza-Korrespondent für AL JAZEERA, BBC und CNN zufolge arbeitete Sharif vor dem aktuellen Konflikt für ein Hamas-Medienteam in Gaza.
Während des Gaza-Krieges blieb Al-Sharif im Norden des Gazastreifens und berichtete fortlaufend aus umkämpften Gebieten. Die israelische Regierung warf Al-Sharif wiederholt terroristische Aktivitäten vor.
Schon 2023 war er wegen seiner Kriegsberichterstattung unter Druck geraten: Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) berichtete, sein 90-jähriger Vater sei im Dezember 2023 bei einem Luftangriff auf das Haus der Familie getötet worden; Wochen zuvor hatte der Journalist laut CPJ mehrere telefonische Drohungen von israelischen Armeeoffizieren erhalten, die ihn aufforderten, seine Berichterstattung einzustellen und den nördlichen Gazastreifen zu verlassen.
Berufsverbände und internationale Organisationen warnten wiederholt vor persönlichen Drohungen gegen ihn und andere Reporter. Nach Bekanntgabe eines Waffenstillstands im Januar 2025 legte Al-Sharif während einer Live-Schalte demonstrativ Helm und Schutzweste ab; Videos der Szene verbreiteten sich international. Das Komitee zum Schutz von Journalisten forderte im Juli 2025 Schutz für Al-Sharif und wies Vorwürfe zurück, wonach er ein Kämpfer sei. Auch die UN-Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit, Irene Khan, verurteilte noch 10 Tage vor Al-Sharifs Ermordung die gegen ihn gerichteten Drohungen als Versuch, Berichterstattung zu unterdrücken.
Al-Sharif wurde am 10. August 2025 zusammen mit vier weiteren Journalisten und zwei weiteren Menschen bei einem Luftangriff auf ein Zelt außerhalb des al-Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt getötet. Der Angriff beschädigte einen Teil der Notaufnahme des Krankenhauses. Al-Sharif hatte wenige Minuten vor seinem Tod in sozialen Medien über intensive israelische Bombardements berichtet. Als Grund für seine gezielte Tötung wird angegeben, er habe eine Terrorzelle der Hamas geleitet. Neben Al-Sharif kamen die Journalisten Mohammed Qreiqeh, Ibrahim Zaher, Mohammed Noufal und Moamen Aliwa sowie zwei weitere Personen ums Leben. Das israelische Militär bestätigte, dass der Angriff Al-Sharif zum Ziel gehabt habe.
Die rechtliche Lage: Journalist:innen verlieren ihren völkerrechtlichen Schutzstatus durch die Genfer Konvention erst dann, wenn sie sich aktiv an Kampfhandlungen beteilige. Eine Voreingenommenheit allein genügt dafür nicht. Trotzdem versuchte die IDF, mit dessen angeblichen engen Verbindungen zur Hamas-Terrororganisation seine gezielte Tötung zu rechtfertigen.
In sozialen Netzwerken wurde nach seiner Ermordung vielfach ein Beitrag verbreitet, den Al-Sharif am 7. Oktober 2023, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, veröffentlicht haben soll. Darin hieß es: „9 Stunden und die Helden ziehen immer noch durch das Land, töten und nehmen gefangen … Oh Gott, wie großartig du bist.“ Der Post wurde zwar gelöscht, stammt aber nach Recherchen des NDR tatsächlich aus Al-Sharifs Telegram-Kanal. Laut dem Faktenfinder-Bericht zeigte eine Analyse seiner Veröffentlichungen, dass Al-Sharif „mutmaßlich Sympathien für die Hamas gehegt haben könnte“, denn er benutzte häufig Herz-Emojis in Grün – der Farbe der Hamas – im Zusammenhang mit Beiträgen über die Terrororganisation. Auch Selfies mit hohen Hamas-Funktionären, von denen Al-Sharif einige selbst geteilt haben soll, wurden untersucht. Nach dem Dezember 2023, dem Beginn von Al-Sharifs Korrespondententätigkeit für AL JAZEERA, fanden sich allerdings keine derartigen Beiträge mehr auf seinen Kanälen; in einigen jüngeren Beiträgen übte er auch Kritik an der Hamas. Konkrete Belege für die Leitung einer Hamas-Terrorzelle liegen dem Recherche-Team des NDR nicht vor.
Raed Fakih von AL JAZEERA warf dem israelischen Militär vor, Geschichten über Journalisten zu erfinden, bevor es sie tötet, um „zu verbergen, was es in Gaza tut“. Israel hatte zuvor bestritten, Journalisten ins Visier zu nehmen. Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 200 Medienschaffende von israelischen Streitkräften getötet. Diese Zahl sei „absolut inakzeptabel“, so die deutsche Bundesregierung. AL JAZEERA verurteilte den Angriff als „gezielte Tötung“ und als erneuten schweren Angriff auf die Pressefreiheit.
Internationale Medien und Organisationen verwiesen darauf, dass zuvor bereits zahlreiche Journalistinnen und Journalisten in Gaza getötet worden waren; die UN-Menschenrechtsstelle sprach von einem Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, nach dem Medienschaffende als Zivilpersonen geschützt sind. Laut der BBC hat der Angriff „effektiv das gesamte Team des Netzwerks“ von AL JAZEERA in Gaza-Stadt ausgelöscht, während die israelische Armee Vorbereitungen getroffen habe, um dort die Kontrolle zu übernehmen. Ein Sprecher des britischen Premierministers Keir Starmer erklärte, die Regierung sei „äußerst besorgt“ über die wiederholten Angriffe auf Journalisten in Gaza.
Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen erklärte: „Ohne entschlossene Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft, um die israelische Armee zu stoppen, werden wir wahrscheinlich weitere solche außergerichtlichen Morde an Medienvertretern erleben.“ Die Internationale Journalisten-Föderation (IFJ) verurteilte den Angriff „aufs Schärfste“, weitere Kritik kam vom Deutschen Journalisten-Verband (DJV): „Wir verlangen Aufklärung über die Hintergründe der Tötungen“, erklärte der DJV-Bundesvorsitzende Mika Beuster. Eine unabhängige Prüfung der gegen Al-Sharif erhobenen Vorwürfe sei unmöglich, da Israel internationalen Journalisten keinen Zugang zum Gazastreifen gewähre, so Beuster.
Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) verurteilte die Tötung derAL JAZEERA -Mitarbeiter und erklärte, Israel habe „eine langwährende, dokumentierte Praxis, Journalisten als Terroristen zu beschuldigen“, ohne glaubwürdige und verifizierbare Beweise vorzulegen; dies sei auch hier der Fall gewesen. Dazu komme ein weiteres Muster in Gaza, dass Journalisten – wie in Al-Sharifs Fall – über Drohungen berichteten und anschließend ihre Familienmitglieder getötet würden.
Al-Sharif war verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Al-Sharif gehörte zu einem Team der Nachrichtenagentur REUTERS, das 2024 für seine Fotoberichterstattung zum Israel-Gaza-Krieg mit dem Pulitzer-Preis für „Breaking News Photography“ ausgezeichnet wurde.
Christopher Resch, Sprecher für Nahost von Reporter ohne Grenzen, schrieb auf Anfrage der NDR: „Wir kennen Anas al-Sharifs Arbeit seit längerem und standen als Organisation immer wieder auch direkt mit ihm in Kontakt. Uns sind keine Hinweise auf eine aktive terroristische Tätigkeit für die Hamas bekannt. Die Belegführung der israelischen Armee halten wir nach den aktuell verfügbaren Informationen für nicht ausreichend, um damit eine gezielte Tötung zu begründen.“
Al-Sharifs Beiträge in sozialen Netzwerken seien ebenfalls kein ausreichender Beleg, dass er seinen völkerrechtlichen Schutzstatus als Journalist verlieren könnte, so Resch. Dieser Schutz durch die Genfer Konvention sei dann verloren, wenn sich ein Journalist aktiv an Kampfhandlungen beteilige. Eine Voreingenommenheit allein genüge dafür nicht.
Zu den Terrorismusvorwürfen schreibt der NDR:
„Kurz nach dem Angriff veröffentlichte die israelische Armee (IDF) auf X verschiedene Vorwürfe gegen den Journalisten: „Al-Sharif war der Anführer einer Hamas-Terrorzelle und führte Raketenangriffe auf israelische Zivilisten und IDF-Truppen aus. Geheimdienstinformationen und Dokumente aus Gaza, darunter Dienstpläne, Listen von Terroristentrainings und Gehaltsabrechnungen, beweisen, dass er ein Hamas-Agent war, der in Al Jazeera integriert war. Ein Presseausweis ist kein Schutzschild für Terrorismus.“
Dazu veröffentlichte das Militär Dokumente, die von der Hamas stammen sollen – angebliche Telefonlisten und Kämpferverzeichnisse. Doch ihre Echtheit kann nicht unabhängig überprüft werden.
Die IDF hatte al-Sharif und fünf weiteren Al-Jazeera-Journalisten bereits im Oktober 2024 Verbindungen zur Terrororganisation Hamas und dem Islamischen Dschihad unterstellt. Sowohl Al Jazeera als auch al-Sharif wiesen das stets zurück. Einer der beschuldigten Journalisten, Ismail Abu Omar, war zuvor im Februar 2024 bei einem Angriff Israels schwer verwundet worden. Ein weiterer, Hossam Barel Abdul Karim Shabat, wurde im März 2024 durch die IDF getötet.
Was zeigen die Dokumente?
Der in den Dokumenten beschriebene al-Sharif soll „Soldat“ und „Teamleiter“ sein, geboren am 3. Dezember 1996 und verheiratet. Das Geburtsdatum und Beziehungsstatus sind nach NDR-Recherchen korrekt, diese Informationen sind im Netz leicht zu finden.
Weiter heißt es einem Dokument, im April 2017 habe er bei einer Explosion während einer Übung Verletzungen an Ohr und Auge erlitten. Seitdem habe er eine starke Hörminderung im linken Ohr, eine Sehbeeinträchtigung des linken Auges, dazu Schwindel und Kopfschmerzen. Das lässt sich auf Basis öffentlicher Informationen nicht überprüfen.
Außerdem soll er seit 2013 bei der Hamas sein – damals wäre al-Sharif erst 16 Jahre alt gewesen. Die Dokumente haben wir übersetzt und von verschiedenen Experten für Nahost und Terrorismus einordnen lassen. Eine Beurteilung bleibt schwierig, die Echtheit lässt sich nicht abschließend verifizieren.
In den Veröffentlichungen der IDF heißt es stets, al-Sharif habe sich als Journalist „ausgegeben“ – tatsächlich zeigt eine Auswertung von al-Sharifs Social-Media-Kanälen aber, dass er in den vergangenen Wochen und Monaten täglich journalistisch gearbeitet hat. Er veröffentlichte im Minutentakt Beiträge über Geschehnisse im Gazastreifen und tauchte mehrfach im Programm von Al Jazeera auf.
Umstrittene Beiträge in sozialen Netzwerken
In sozialen Netzwerken wird währenddessen auch über Äußerungen und Fotos von al-Sharif diskutiert, die seine Nähe zur Hamas belegen sollen. Neben Telegram betrieb al-Sharif Kanäle auf X, WhatsApp, Instagram und Facebook, die Beiträge darin reichen Jahre zurück. Seine Karriere als Journalist begann er 2019.
Eine Analyse seiner Veröffentlichungen auf Telegram zeigt, dass al-Sharif in der Vergangenheit mutmaßlich Sympathien für die Hamas gehegt haben könnte. Er benutzte häufig grüne Herz-Emojis im Zusammenhang mit Beiträgen über die Terrororganisation (Grün ist die Farbe der Hamas). 2021, kurz vor einer anstehenden Wahl, berichtete er intensiv über deren Wahlliste und veröffentlichte ein Foto, auf dem er lächelnd vor einer Menschenmenge mit grünen Flaggen posiert.
Unmittelbar nach seinem Tod wurde im Netz vielfach ein Beitrag von al-Sharif verbreitet, den er am 7. Oktober 2023 veröffentlichte – während des blutigen Angriffs der Hamas auf Israel. Der Post wurde gelöscht, stammt aber nach Recherchen des NDR tatsächlich aus seinem Telegram-Kanal. Darin hieß es: „9 Stunden und die Helden ziehen immer noch durch das Land, töten und nehmen gefangen… Oh Gott, wie großartig du bist.“
Selfies zeigen al-Sharif mit Hamas-Funktionären
Wenige Stunden nach seinem Tod kursierten im Netz außerdem zahlreiche Bilder, die al-Sharif mit verschiedenen Hamas-Funktionären zeigen sollen. Avichay Adraee, der arabische Sprecher der IDF, teilte auf X drei Bilder von al-Sharif mit Yahya Sinwar. Nach Recherchen des NDR veröffentlichte al-Sharif zwei dieser Bilder selbst zwischen 2017 und 2021. Sie stammen offenbar von einem Pressetermin im März 2021 – anlässlich der Wiederwahl Sinwars als Führer der Hamas im Gazastreifen.
Das Dritte von Adraee veröffentliche Bild zeigt al-Sharif in enger Umarmung mit Sinwar und soll den Terrorismusvorwurf belegen. Die Oberbekleidung Sinwars und die einer weiteren Person passen zu Pressefotos des Besuchs des Vorsitzenden des Katarischen Komitees für den Wiederaufbau Gazas, Mohammed Al-Emadi, in Gaza im Januar 2019. Al-Sharif selbst teilte bei Telegram lediglich drei zuvor veröffentlichte Pressefotos. Ob er an der Veranstaltung tatsächlich teilnahm, lässt sich nicht verifizieren. Das Originalfoto mit Sinwar war nicht auffindbar.
Auf dem Telegram-Kanal von al-Sharif findet sich aber noch ein viertes Selfie mit Sinwar, veröffentlicht im September 2020, und ein Selfie mit dem Hamas-Politiker Mahmoud al-Zahar aus dem Jahr 2017. Der Hintergrund der Aufnahmen bleibt offen. Im Januar 2019 dokumentierte al-Sharif auf seinem Telegram-Kanal zudem einen Besuch des Hamas-Funktionärs Fathi Hamad und schrieb dazu: „Ich hatte heute Abend die Ehre, #A_Fathi_Hammad, Mitglied des Politbüros der Bewegung, in meinem Haus zu empfangen. Vielen Dank für diesen Besuch.“
Keine Belege für aktive Mitgliedschaft
Ein Beleg, dass al-Sharif aktiv eine Terrorzelle der Hamas geleitet habe, ist all dies nicht. Ab Dezember 2023 arbeitete al-Sharif als Korrespondent für AL JAZEERA, anschließend finden sich solche Beiträge nicht mehr in seinen Kanälen. 2024 wehrte er sich gegen die Vorwürfe auf X: „Ich bin ein Journalist ohne politische Zugehörigkeit. Meine einzige Mission ist es, über die Wahrheit vor Ort zu berichten – so wie sie ist, ohne Vorurteile.“ „
Stand der Recherche August 2025
Quellen : wikipedia, www.tagesschau.de
Künstlerin: Annette Finze
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